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Du willst nur das Beste? Voilà:
Philipp Löpfe denkt nicht so wie Anthony Burgess. Er hat noch Hoffnung für die Menschheit. Und sie lebt in seinem neuen Buch «Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft».
Während der knapp zehn Stunden (vom Autoren reichlich optimistisch bemessen), die man braucht, um dieses Buch zu lesen, werden auf der Welt:
Willkommen im digitalen Zeitalter, wo die unterste Stufe der maslovschen Bedürfnisse längst mit dem Wort WLAN ergänzt worden ist.
Löpfes These für die Zukunft lautet: Die Digitalisierung bietet uns die Chance, dank unserer technischen Möglichkeiten eine Tauschgesellschaft auf sehr viel höherem Niveau wieder einzuführen. Via Internet werden Produkte, Leistungen und Wissen nicht primär gegen Geld, sondern gegen Gefühle wie Anerkennung und Liebe, gegen Fähigkeiten und Wissen getauscht. Eine genossenschaftlich organisierte Hightechgesellschaft, die nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation beruht.
Dafür taucht er in die Ethnologie ein, erzählt von Stämmen im tiefen Amazonas, die keinerlei individuellen Besitz haben. Von egalitären Gesellschaften, die auf Tausch beruhen, und in denen selbst der Häuptling über keinerlei Reichtum verfügt. Zu diesem Urkommunismus müssen wir in naher Zukunft zurück, sagt Löpfe.
Das heutige Wirtschaftssystem hat ausgedient. Seine Steigerungslogik geht nicht mehr auf. Im Finanzkapitalismus geht es allein darum, das Geld zu vermehren. Es ist vollständig entkoppelt von der realen Welt. Geld ist nicht mehr Mittel, es ist zum Selbstzweck geworden.
Die Staaten sind bankrott, weil sie Banken retten müssen, die« too big to fail» sind. Die Globalisierung hat einige Gewinner, aber viele Verlierer geschaffen. Die grosse Mehrheit geht leer aus, die Menschen vertrauen dem Staat nicht mehr, sie beginnen ihn zu hassen – und sie blicken voller Neid auf die kleine Elite der aufgeblasenen Investmentbanker, die auf ihren müden Rücken einen absurden Reichtum anhäufen.
Der wieder aufkeimende Nationalismus ist eines der politischen Symptome dieses kränkelnden Systems. Die anderen sind die Luftverschmutzung, der Klimawandel, die blutende Erde.
Die Politaktivisten und Löpfe sind sich einig: Nachhaltigkeit und ein globalisierter Markt gehen nicht zusammen; der Kampf gegen den Treibhauseffekt muss auch der Kampf für eine neue Wirtschaftsordnung sein. Mit dem technischen Fortschritt ist eine solche denkbar geworden. Aber ohne gesellschaftliche Umwälzungen wird es auch keine digitale Revolution geben.
Nur wie sollen sich die Menschen von selbstsüchtigen, gewinnorientierten Subjekten hin zu ethisch verantwortungsvollen Individuen mit einem edlen Sinn für Gemeinschaft entwickeln?
Um das herauszufinden, löchere ich – mit meinen 30 Jahren generell überzeugt von der Schlechtigkeit des Menschen – den ca. 60-jährigen, hoffnungsvollen Löpfe mit pessimistischen Fragen:
Philipp, du schreibst, dass in deiner neuen Tausch-Wirtschaft der Anreiz nicht mehr Gier und Egoismus sein werden, sondern eine Art Altruismus: Du skizzierst ein aus der menschlichen Einsicht geborenes System, das auf Gegenseitigkeit, statt auf Ausbeutung beruht. Nicht einer kriegt alles, sondern alle alles. Die Menschheitsgeschichte lässt diese Hoffnung fast schon naiv aussehen. Der Mensch ist grundsätzlich faul und egoistisch, das sagen so ziemlich alle ernstzunehmenden Philosophen. Du aber glaubst, dass wir uns aus eigenem Antrieb aus unserer selbstverschuldeten Misere retten, bevor es zur unausweichlichen Katastrophe – einer endgültigen Wirtschaftskrise oder einem dritten Weltkrieg – kommt. Warum?
Philipp Löpfe: Der Mensch ist weder grundsätzlich faul und egoistisch, noch grundsätzlich strebsam und altruistisch, liebe Anna. Menschen reagieren auf Anreize, wie die Ökonomen zu sagen pflegen. Das mag zwar ein bisschen platt sein, aber es ist nicht ganz falsch. Der Kapitalismus setzt die Anreize so, dass Egoismus belohnt wird. Die menschliche Gier wird so gelenkt, dass sie der ganzen Gesellschaft nützt. Dafür sorgt die «unsichtbare Hand» des Marktes. Das hat 250 Jahre lang nicht schlecht funktioniert.
Doch jetzt stösst dieses System überall an Grenzen, sei es ökologisch (Klimaerwärmung), ökonomisch (instabiles Finanzsystem), sozial (wachsende Ungleichheit) oder politisch (Comeback von Nationalismus und Faschismus). Diese Entwicklung könnte tatsächlich in einer Katastrophe enden. Deshalb hat die Menschheit gar keine andere Wahl, als auf neue Anreizsysteme zu setzen, die auf Gegenseitigkeit basieren.
Dir schwebt eine «digitale Stammesgesellschaft» vor. Du verbindest also die Lebensweise von längst ausgestorbenen, indigenen Völkern mit den modernen technischen Errungenschaften, um deine neue Wirtschaftsordnung zu kreieren. Bist du eventuell ein bisschen verrückt geworden?
Nein, aber ich habe – allerdings vor ziemlich langer Zeit – ein bisschen Ethnologie studiert. Dabei haben mich vor allem die Strukturalisten wie Claude Lévi-Strauss fasziniert. Die Strukturalisten sagen nicht, die Geschichte der Menschheit verlaufe linear von einem primitiven Urkommunismus zu einer hoch entwickelten Zivilisation. Sie sagen vielmehr: Stammesgesellschaften, hierarchische Gesellschaften und liberale Gesellschaften haben jede ihre eigene Logik und ihre eigenen Tugenden, aber auch ihre eigenen Fehler. Die Stammesgesellschaften kennen keine Innovation, die hierarchische Gesellschaft keine Gleichheit und die liberale Gesellschaft keine Gegenseitigkeit.
Oliver und ich sagen nun, dass es dank des technischen Fortschrittes möglich geworden ist, die jeweiligen Fehler zu verhindern. Mit anderen Worten: Theoretisch ist es machbar, dass eine Gesellschaft innovativ, gerecht und liberal ist. Die «digitale Stammesgesellschaft» ist somit nicht primitiv, sondern hochmodern. Es geht nicht darum, in die Höhle zurückzukehren und ums Feuer zu tanzen. Es geht darum, eine menschliche Gesellschaft zu entwickeln, die den Planeten nicht zerstört.
Als schwierig gestaltet sich der Übergang, wie du selbst schreibst. Uber und Airbnb sind zwei Unternehmen, die unter dem hehren Begriff der «Sharing Economy» kapitalistischer nicht funktionieren könnten und die Taxi- und Hotel-Branche in existentielle Bedrängnis bringen. Du beschreibst diese machtbesessenen Silicon-Valley-Typen wie den Google-Berater Raymond Kurzweil oder den Uberchef Travis Kalanick, die nach Unsterblichkeit streben und mit ihren Supercomputern das Universum erobern wollen. Ein Internet-Klerus von asozialen Cybertotalitären sei das. Und er zerschlägt die traditionelle, gewerkschaftlich organisierte Arbeitswelt. Wie sollen solche kapitalistischen Monopole verdrängt werden, damit eine wahre Teil- und Tausch-Gesellschaft entstehen kann, die die Kluft zwischen arm und reich schliesst?
Solarstrom ist heute ungefähr gleich teuer wie dreckiger Strom. Bald wird er billiger sein und die Menschen beginnen, diesen Strom mit Hilfe der Blockchain-Technologie zu tauschen. Das passt natürlich den etablierten Energiekonzernen nicht, aber sie müssen nolens volens mitmachen, weil sie sonst ihre Kunden verlieren.
Diese Entwicklung sehen wir überall, in den Medien, den Banken, der Autoindustrie, etc. Die Digitalisierung beginnt, die bestehenden Geschäftsmodelle zu untergraben, es kommt – wie man heute sagt –, zu einer Disruption. Dass dies mit grossen Schmerzen verbunden sein wird, ist klar. Aber letztlich ist diese Entwicklung, wie Angela Merkel es formulieren würde, alternativlos.
In dieser zukünftigen Welt wird so ziemlich alles von Computern geregelt: Unsere Lebenspartner suchen wir nicht mehr selbst, das übernimmt ein Algorithmus. Maschinen managen unseren Alltag: Weil es keine Banken mehr gibt, sagt uns unsere Finanzapp, ob wir uns das neue (selbstfahrende) Auto leisten können oder nicht. Du schreibst: «Ohne Hilfsmaschinen sind wir in der komplexen Welt nicht mehr in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen.» Wir geben also de facto unsere Entscheidungshoheit auf und lassen uns von Maschinen führen ...
Oh je, ein weites Feld. Es gibt ja bereits Philosophen wie Nick Bostrom, die von einer «Superintelligenz» sprechen, von künstlicher Intelligenz, welche die menschliche Intelligenz um ein Zigfaches übersteigen wird. Tatsache ist, dass Chatboxes wie Siri immer gescheiter werden und Autos sich schon heute selbst lenken können. Und Tatsache ist auch, dass wir unseren Alltag immer weniger ohne Hilfe der künstlichen Intelligenz bewältigen können.
Um zu entscheiden, ob die künstliche Intelligenz dereinst die Macht übernehmen wird –, um das zu beantworten, bin ich leider zu wenig intelligent.
Der digitale Tauschhandel als neue Wirtschaftsordnung soll wieder der Befriedigung der eigenen, selbstbestimmten Bedürfnisse dienen. Wir werden nicht mehr für irgendwelche Unternehmensziele arbeiten, mit denen wir uns nicht identifizieren können. Wie würdest du den Begriff «Arbeit» in dieser neuen Welt definieren?
Liebe Anna, du bist ein Römer-Fan (aus welchen Gründen auch immer, es waren ja ziemlich üble Kerle). Darf ich dir deshalb ein Zitat von Cicero um die Ohren hauen?
Unsere Vorstellung von Arbeit ist historisch gesehen jung und atypisch. Ist es wirklich sinnvoll, eine Arbeit zu verrichten, die man hasst, um die Dinge zu kaufen, die man nicht braucht, um so Menschen zu imponieren, die man verachtet? Die digitale Stammesgesellschaft wird es möglich machen, dass Arbeit nicht mehr entfremdet, sondern selbstbestimmt ist. Das ist doch toll, oder?
Wenn es funktioniert, ist es sehr toll, ja. Die Arbeit ist also nicht mehr ans Geld geknüpft, wir werden mit einer Art Grundeinkommen versorgt. Gezahlt wird nur mit der Identität. Mit Daten. Wir stehen sozusagen nackt da, der gläserne Mensch ist zur Realität, die Privatsphäre Geschichte geworden. Wem werden die Informationen über uns gehören? Allwissenden Unternehmen wie Facebook, Google und Co., die uns lenken und um die Vorherrschaft im digitalen Werbemarkt kämpfen?
Es besteht leider die Möglichkeit, dass das Ganze in eine falsche Richtung läuft, dass wir in einer dystopischen Welt landen, in der eine schmale Elite mithilfe von künstlicher Intelligenz und totaler Überwachung der grosse Mehrheit der Menschen überwacht und ausbeutet. Hollywood hat diese Zukunft eines Techno-Faschismus in der verschiedendsten Varianten vorweggenommen. Denk an «Hunger Games», «Elysium», «Teminator», etc.
Umgekehrt wird derzeit die Privatsphäre überhöht. Historisch gesehen ist sie relativ jung, im Mittelalter hatten nicht einmal die Könige eine Privatsphäre. Zudem ist unser Leben vielleicht gar nicht so interessant, wie wir meinen. Big Data zeigt ja, dass Algorithmen mit wenig Daten viel über uns wissen –, und dass das Meiste davon trivial ist. Wenn wir also einen Teil unserer Privatsphäre preisgeben und dafür im Gegenzug beispielsweise viel gesünder sind und unsere Verkehrsproblem vernünftiger bewältigen können, dann ist dies doch ein guter Deal.
Wir sind alle miteinander vernetzt und tauschen unsere Fähigkeiten. Wissen ist für alle zugänglich, jeder hat also die Chance, ein Universalgenie zu werden, neue Ideen zu entwickeln, auf die die Welt gewartet hat. Soweit deine Ideal-Vorstellung. Aber ist eine solche Gesellschaft wirklich fairer? Was ist mit unkreativen Menschen, mit Menschen, die sich nicht bilden können oder wollen, deren Jobs irgendwo im Sektor der einfachen Dienstleistungen (Paketdienst, Raumpflege, Kassenbedienung, etc.) längst von Maschinen übernommen wurden. Was haben sie im Tauschhandel anzubieten?
Sigmund Freud sagte einst einen sehr gescheiten Satz: «Die Psychoanalyse verwandelt hysterisches Elend in gemeines Leid.» Unabhängig davon, ob die Psychoanalyse das auch leisten kann oder nicht, hat die Idee hinter diesem Satz auch für die digitale Stammesgesellschaft Gültigkeit.
Es geht nicht darum, ein Techno-Paradies zu schaffen, in dem alle kreativ sind – oder was sie dafür halten. Es geht darum, die Menschen von entfremdeter Arbeit zu befreien und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das heisst nicht, dass jeder Künstler oder Wissenschaftler werden muss. Es heisst aber, dass die Menschen Zeit und Musse haben, das zu tun, was ihnen sinnvoll erscheint. Ob sie nun einen Garten pflegen, kochen, sich um ihre Angehörigen kümmern, spielt keine Rolle.
Entscheidend ist, dass sie ohne Zwang über ihre Zeit verfügen können. Das bedeutet keineswegs, dass sie dabei immer glücklich sein müssen – was für eine schreckliche Vorstellung. Das Leben wird auch in einer digitalen Stammesgesellschaft für genügend menschliches Leid sorgen, darauf kannst du dich verlassen.
Die Menschen werden aber in der Lage sein, mit diesem Leid nicht hysterisch, sondern vernünftig umzugehen. Und sie werden in der Lage sein, mit existenziellen Gefahren wie der Klimaerwärmung rational umzugehen. Wenn nicht, dann könnte es tatsächlich zu einem sechsten, von Menschenhand verursachten Massensterben kommen.