Im «American Psychologist» veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern eine Studie, die uns den Glauben an die Menschheit zurückgibt.
Die Psychologen haben Aufnahmen von Überwachungskameras in Südafrika, den Niederlanden und Grossbritannien analysiert und sind zum Schluss gekommen, dass sich Leute in Notsituationen durchaus zu Hilfe eilen.
If someone was in trouble, would you help?https://t.co/wjQrDOEylA pic.twitter.com/xYZHKSHQXq
— BBC News (UK) (@BBCNews) August 14, 2019
Ist also der sogenannte Zuschauer-Effekt (engl. «Bystander Effect») nur ein Mythos?
Unter diesem versteht man das Phänomen, dass einzelne Augenzeugen eines Unfalls oder kriminellen Übergriffs eher gehemmt sind, Hilfestellung zu leisten, wenn weitere Zuschauer anwesend sind, als wenn sie alleine sind.
Angefangen hatte alles mit dem Mord an Kitty Genovese. Die 28-jährige New Yorkerin wurde am 13. März 1964 ganz in der Nähe ihrer Wohnung vergewaltigt und erstochen. Der Angriff dauerte über eine halbe Stunde. Spätere Untersuchungen ergaben, dass mindestens 38 Leute zumindest Teile des Angriffs beobachtet oder gehört hatten, aber allesamt nichts unternahmen.
Die «New York Times» titelte damals: «Thirty-Eight Who Saw Murder Didn't Call the Police». Am Ende des Artikels las man die Aussage eines Nachbarn, der sein Nichtstun damit erklärte, dass er nicht darin verwickelt werden wollte.
Die Welt war geschockt. Der Mord an der jungen Frau wurde zum Sinnbild für menschlichen Egoismus, Gefühlskälte und Apathie gegenüber eines sich in Lebensgefahr befindlichen Mitmenschen.
Etliche Studien wurden über den Vorfall verfasst, der fortan erklärt wurde mit dem Zuschauer-Effekt – je mehr Augenzeugen in einer Notsituation anwesend sind, desto weniger sind sie gewillt, einzuschreiten. Eine viel zitierte Metastudie aus dem Jahr 1981 zementierte dann anhand von 50 relevanten Untersuchungen jene «Wahrheit» für die nächsten 20 Jahre.
2007 erst kamen allmählich die Details ans Licht: Einige von Genoveses Nachbarn haben damals durchaus versucht, den Mörder aufzuhalten – ein Mann schrie aus seinem Fenster: «Lass das Mädchen in Ruhe!», ein anderer rief die Polizei. Und ein Jahr später brachte eine neue Metaanalyse jenes pessimistische Menschenbild endgültig zu Fall:
Sie zeigte, dass den Machern der früheren Metastudie ein Kalkulationsfehler unterlief. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Opfer Hilfe von einem Beistehenden erhält, sei sogar höher, je grösser ihre Anzahl sei, lautete die Schlussfolgerung der neuen Studie.
Diesen Befund bestätigt auch die vom Psychologen Richard Philpot von der renommierten Lancaster Universität kürzlich durchgeführte Analyse – «Would I be helped?: Cross-national CCTV footage shows that intervention is the norm in public conflicts». Philpots Team untersuchte 219 öffentliche Konflikte, die von Überwachungskameras erfasst worden sind. Die ausgewählten Vorfälle zeichnen sich dadurch aus, dass keine Polizei oder Sanitäter anwesend waren, um dem Opfer zu helfen. Das Video-Material stammt aus Amsterdam (Niederlanden), Kapstadt (Südafrika) und Lancaster (Grossbritannien).
Die Bilder zeigen zudem, dass in 9 von 10 Fällen mindestens ein Zeuge, typischerweise sogar mehrere, in die Notsituation eingreifen und damit etwas bewirken können. Und dies unabhängig davon, wo die Leute leben. Ob in Amsterdam oder dem verhältnismässig kriminelleren Kapstadt – die Menschen helfen einander.
Die Ergebnisse der Studie beantworten also die gestellte Frage «Würde mir geholfen werden?» mit «Ja». Die Frage, die der Zuschauer-Effekt aufwirft – ob die Anwesenheit mehrerer Leute die Hilfestellung tatsächlich erschwert – ist damit nicht geklärt, geben die Forscher zu.
Mit anderen Worten: Während ein Opfer eher Hilfe von mindestens einer Person erhält, je mehr Zuschauer anwesend sind, könnte es gleichzeitig wahr sein, dass jeder Zuschauer individuell eine grössere Hemmung zur Hilfestellung empfand, als wenn er allein gewesen wäre.
Im Grunde aber ist diese feine Unterscheidung zweitrangig. Denn wir wissen nun: In 90,9 Prozent der Fälle wird dem Opfer geholfen.
Die Menschheit ist also doch nicht ganz so übel wie angenommen.
Es sei für die Psychologie an der Zeit, die Richtung der Erzählung von der trägen menschlichen Hilfestellung zu ändern, schliesst Philpots Forschungsteam:
(rof)