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Polarstern-Forscher entsetzt: «Haben dem Eis beim Sterben zugeschaut»

Das deutsche Expeditionsschiff "Polarstern" inmitten arktischer Eisschollen. Seine Mission "Mosaic" - mit Beteiligung von drei Schweizer Teams - endet am Montag. (Archivbild)
Das ewige Eis ist brüchig geworden: das Forschungsschiff «Polarstern» unterwegs in der Arktis.Bild: sda

Arktis-Forscher kehren entsetzt zurück: «Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut»

09.10.2020, 10:0509.10.2020, 13:41
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Über ein Jahr war der deutsche Eisbrecher «Polarstern» unterwegs. In der Zentralarktis driftete er mit einer grossen Eisscholle mit. Am Montag kehrt das Forschungsschiff nach Bremerhaven zurück. Mit dabei: wertvolle Daten – und Erinnerungen an ein grosses Abenteuer.

Wenn am Montag (12. Oktober) das deutsche Forschungsschiff «Polarstern» nach einem Jahr in der Arktis in seinen Heimathafen Bremerhaven zurückkehrt, wird auch Expeditionsleiter Markus Rex an Bord sein. Der Atmosphärenphysiker hat drei von fünf Etappen der «Mosaic»-Expedition begleitet und war somit mit am längsten an Bord. Hinter ihm und seinem Team liegt eine der abenteuerlichsten Fahrten in der Geschichte der Arktis-Forschung, die am 20. September 2019 in Norwegen begann - und die wegen der Corona-Pandemie zeitweise auf der Kippe stand.

Zehn Monate lang driftete die «Polarstern» angedockt an eine riesige Eisscholle durch die Arktis. Den gesamten Eiszyklus vom Gefrieren bis zur Schmelze zu beobachten, zu messen und zu dokumentieren – das konnten die Wissenschaftler so zum ersten Mal. Sie versprechen sich von den gewonnenen Daten wichtige Erkenntnisse über das Nordpolarmeer – und über den Klimawandel. Kaum eine Region auf der Erde bekommt ihn so deutlich zu spüren wie die Arktis.

In this Friday, April 24, 2020 photo provide by the Alfred Wegener Insitute shows the German Arctic research vessel Polarstern in the ice next to a research camp in the Arctic region. Dozens of scient ...
Die «Polarstern» im Nordpolarmeer.Bild: AP

«Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut»

Nach dem Zerbrechen der Scholle Ende Juli in der sommerlichen Arktis führte die letzte Etappe die «Polarstern» unter Motor noch einmal Richtung Nordpol. Was Rex da gesehen hat, hat ihn entsetzt: «Das Eis am Nordpol war völlig aufgeschmolzen, bis kurz vor dem Pol gab es Bereiche offenen Wassers.» Dort, wo normalerweise dichtes, mehrjähriges Eis war, sei die «Polarstern» in Rekordzeit durchgefahren. «Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut», sagt Rex.

Es ist eines der Erlebnisse, die ihm und seinem Team in Erinnerung bleiben werden von einer Fahrt der Superlative. Mit 140 Millionen Euro Budget war es die bisher teuerste und logistisch aufwendigste Expedition in die zentrale Arktis.

Schneeforscher Schneebeli und andere Schweizer

Fast 500 Menschen aus allen Ecken der Welt waren etappenweise an Bord. In Schichten arbeiteten rund 70 Wissenschaftler aus 17 Nationen für jeweils zwei Monate mit, dann wurden sie durch Kolleginnen und Kollegen abgelöst. Mit dabei war auch der Schweizer Schneeforscher Martin Schneebeli.

Drei Schweizer Teams waren ausserdem auf der Expedition: Neben jenem von Martin Schneebeli untersuchten Wissenschaftler des Paul Scherrer Instituts (PSI) um Julia Schmale atmosphärische Gase, die für die Wolkenbildung eine wichtige Rolle spielen. Kollegen Schneebelis vom Davoser WSL-Institut um Mike Schwank und Reza Naderpour analysierten, inwieweit die vom Schnee reflektierten Mikrowellen Aufschluss über dessen Beschaffenheit geben.

Mitfinanziert wurden die Projekte vom Swiss Polar Institute (SPI), das sich an den hohen Logistikkosten für die wissenschaftlichen Arbeiten der Schweizer Gruppen in Polarregionen beteiligte. Neben anderen Geldgebern leistete die Schweizerische Kommission für Polar- und Höhenforschung (SKPH) ideelle Unterstützung.

Preisgekröntes Bärenfoto

Der Deutsche Markus Rex, der für das Alfred-Wegener-Institut (AWI) arbeitet, ist froh, dass die Reise ohne grössere Blessuren zu Ende geht. Das Schlimmste sei ein Beinbruch eines Kollegen gleich am Anfang an Bord gewesen. Dazu kamen kleinere Erfrierungen im Gesicht bei einigen Teilnehmern – bei bis zu minus 42 Grad nichts Ungewöhnliches. «Die verheilten aber problemlos», sagt Rex.

Dabei hätte viel passieren können. Begegnungen mit Eisbären gab es auf der Scholle viele. Damit die Wissenschaftler in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen konnten, sicherten Wächter die Scholle permanent ab. Meist vertrieb bereits Lärm die vierbeinigen Gäste.

Polar bears at the ice camp close to Polarstern. 10 October 2019, Stefan Hendricks
Bild: Alfred-Wegener-Institut, Helmhol

Am Abend des 10. Oktober 2019 war AWI-Fotografin Esther Horvath bei einem solchen Besuch an Bord. Vom Bug der «Polarstern» aus fotografierte sie eine Eisbärenmutter und ihr Junges, die das Forschungscamp erkundeten. «Ich hatte schon in dem Moment das Gefühl, dass es ein wichtiges Foto sein wird», erzählt sie. Tatsächlich gewann das Bild den renommierten «World Press Photo Award» in der Kategorie «Umwelt».

Der freche Kabel-Fuchs

Auch andere Tiere kamen zu Besuch. Christian Haas, Fahrtleiter der zweiten Etappe, erinnert sich: «Ein kleiner, niedlicher Polarfuchs hätte fast das ganze Projekt zum Scheitern gebracht, weil er mit Vorliebe Strom- und Datenkabel auf dem Eis angeknabbert hat und sich nicht vertreiben lassen wollte.»

Noch stärker als die Tiere beeindruckte Fotografin Horvath die Polarnacht. «Dieses tiefe Schwarz hat mich jeden Tag aufs Neue fasziniert, das war magisch», sagt sie. Von Mitte Oktober vergangenen Jahres an war es durchgehend dunkel. «Auf der Scholle wurde im Licht der 'Polarstern' und der Kopflampen gearbeitet. Ich habe mich ständig wie in einer Kinoszene gefühlt.»

Für Haas war das Einsetzen der «nautischen Dämmerung» im März beeindruckend: «Weil sich dieser fahle Lichtschein in der Nähe des Nordpols innerhalb eines Tages um den kompletten Horizont um uns herumdreht, kann man erahnen, dass die Erde eine Kugel ist.»

Wenn es erstmals wieder tagt ...

Christian Pilz, Atmosphärenphysiker am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig, hat das Gegenteil der Nacht erlebt: den Polartag. Er war im Sommer zwei Monate an Bord und hatte wegen der durchgängigen Helligkeit und Temperaturen um null Grad gute Arbeitsbedingungen. «In unseren roten Sicherheitsanzügen war es fast zu warm.» Pilz und seine Kollegen liessen einen Fesselballon von der Grösse eines Linienbusses in bis zu 1000 Meter Höhe aufsteigen, um dort atmosphärische Parameter wie Turbulenz, Strahlung und Feinstaubkonzentration zu messen.

Eigentlich hatte Pilz schon zwei Monate früher an Bord sein sollen. Doch mit dem Beginn der Corona-Pandemie war zunächst unklar, ob die «Mosaic»-Expedition fortgesetzt werden kann. Wegen der Reisebeschränkungen war der vorgesehene Austausch des Teams an Bord per Flugzeug nicht möglich. Stattdessen fuhren schliesslich zwei Forschungsschiffe mit Wissenschaftlern von Bremerhaven aus los. Die «Polarstern» unterbrach ihre Drift, die Mannschaften konnten in Spitzbergen ausgetauscht werden. Die «Polarstern» kehrte zurück an ihre Scholle und setzte die Drift fort.

Leiter Markus Rex ist mehr als zufrieden mit dem Verlauf der Expedition. «Nicht mal Corona hat uns aus der Bahn geworfen», betont er. «Während der Abwesenheit der 'Polarstern' haben wichtige Messinstrumente autonom auf der Scholle weitergearbeitet.» In dem gesamten Jahr seien unzählige Proben und Daten von Eis, Schnee, Wasser und Luft gesammelt worden. «Die werden noch künftige Generationen von Wissenschaftlern beschäftigen.» (sda/dpa)

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Dave1974
09.10.2020 11:27registriert April 2020
Zu dieser Forschungsdrift wird es auch noch eine Doku geben:
Expedition Arktis
Am Montag, 16. November 2020, um 20:15 Uhr im Ersten
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buffettino
09.10.2020 11:28registriert Oktober 2019
Herzlichen Dank an alle, die diese Mission ermöglichten. Danke auch für die Berichterstattung. Ich bin gespannt auf die wissenschaftlichen Resultate der Expedition und hoffe, dass davon auch das eine oder andere den Weg in die Medien finden wird.
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Andre Buchheim
09.10.2020 13:54registriert November 2019
Tja, die Forscher reden, reden, reden, doch die Menschen hören nicht auf, den Planeten zu Tode zu schmarotzen.
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