Japanische Züge sind legendär pünktlich. Und sie sind sicher. Dafür gibt es mehrere Gründe, unter anderem hohe Investitionen in die Wartung der Anlagen und in die Ausbildung des Personals. Japanische Lokführer werden überdies langfristig auf denselben Strecken eingesetzt, damit sie diese gut kennen.
Daneben gibt es aber noch eine japanische Besonderheit, die entscheidend zur Sicherheit im Bahnverkehr beiträgt und doch ausserhalb Japans weitgehend unbekannt ist: Shisa Kanko. Bahnfahrenden westlichen Touristen dürfte diese Sicherheitsmassnahme auffallen, denn sie wirkt recht skurril, wie dieses kurze Video zeigt:
Bei Shisa Kanko, auf Englisch Pointing and calling («Zeigen und nennen») genannt, handelt es sich um eine Methode, die dem Lokführer – und anderen Bahnbediensteten – dabei helfen soll, wichtige Signale und gefahrenträchtige Situationen im mentalen Fokus zu behalten. Der Lokführer zeigt dabei in übertrieben wirkender Weise auf ein Signal und nennt es zugleich mit lauter Stimme. Nähert er sich beispielsweise einem Signal, das ein Tempolimit von 75 km/h in 500 Meter Entfernung ankündigt, zeigt er darauf und sagt «Limit 75, Distanz 500». Gleichzeitig zeigt er auf das Signal und danach auf den Tacho.
Dies soll verhindern, dass eine wichtige Information der Aufmerksamkeit entgeht. Die Wahrnehmung der eigenen Stimme und die Aktivierung der Muskeln in Arm und Mund, so die Theorie, stimulieren das Gehirn und unterstützen dadurch die Aufmerksamkeit.
Tatsächlich scheint das Verfahren zu wirken. Eine Studie des japanischen Railway Technical Research Institute aus dem Jahr 1994 zeigte, dass Versuchspersonen, die eine einfache Aufgabe zu erledigen hatten, im Schnitt 2,38 Fehler pro 100 Aktionen machten. Dieser Wert sank bereits deutlich, wenn die Personen bei der Lösung der Aufgabe zusätzlich darauf zeigten oder sie nannten.
Am stärksten verringerte sich die Fehlerquote, wenn beide Verfahren – zeigen und nennen – kombiniert wurden: Sie lag dann nur noch bei 0,38 Fehlern pro 100 Aktionen, was einer Reduktion von knapp 85 Prozent entspricht.
Eine spätere Studie der Universität von Osaka bestätigte diesen Befund im Jahr 2011. Hier mussten die Testpersonen ebenfalls eine Reihe von simplen Aufgaben lösen, wobei die Fehlerquote ohne Shisa Kanko bei 2,5 Prozent lag. Mit Shisa Kanko sank die Quote auf beinahe null – was auch erwartet wurde.
Unerwartet war dagegen, dass sogar die Reaktionszeit sich verbesserte, wenn Shisa Kanko zur Anwendung kam. Sie verringerte sich zwar auch ohne diese Methode, wenn die Versuchspersonen mehrere Aufgaben hintereinander lösen mussten, doch der Effekt war bei Shisa Kanko stärker.
Die japanische Bahn wendet das Verfahren seit den 80er Jahren in der Ausbildung des Bahnpersonals an, um Betriebsunfälle zu reduzieren. Doch Shisa Kanko gibt es schon viel länger. Angeblich soll es ein Dampflokführer Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden haben: Da er immer schlechter sah, befürchtete er, deswegen ein Signal zu verpassen. Deshalb begann er, die Signale auszurufen, worauf der Heizer sie ebenfalls laut bestätigte.
Irgendwann fiel dies einem Vorgesetzten auf und 1913 wurde das Verfahren unter der Bezeichnung kanko oto («Ruf und Antwort») in eine Dienstvorschrift übernommen. Das Zeigen kam vermutlich erst in den 20er Jahren dazu. In Japan hat sich Shisa Kanko mittlerweile auch ausserhalb des Bahnverkehrs etabliert; vor allem in Arbeitsbereichen, in denen mangelnde Aufmerksamkeit fatale Folgen haben kann.
Ausserhalb Japans ist das Interesse na Shisa Kanko dagegen kaum vorhanden. Eine Ausnahme stellt die New Yorker U-Bahn dar. Das liegt vermutlich daran, dass es den meisten Menschen peinlich ist, bei der Arbeit derart seltsame Gesten auszuführen – erst recht, wenn sich das Spektakel dazu noch in der Öffentlichkeit abspielt. Auch in Japan fällt es dem Personal zu Beginn der Ausbildung oft schwer, sich an die skurrile Prozedur zu gewöhnen.
(dhr)