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Die Wissenschaft erforscht das Coronavirus im Eiltempo

Die Wissenschaft forscht im Eiltempo – wie gefährlich ist das?

Wissenschafter in allen Ländern erforschen unter Hochdruck das Coronavirus. Sie veröffentlichen ihre Ergebnisse sofort. Anders geht es kaum.
21.04.2020, 19:26
Annika Bangerter, Sabine Kuster / ch media
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Während sich das Coronavirus über die Metropolen, Städte und Dörfer dieser Welt ausdehnt, betritt die Wissenschaft Neuland. Die Forscher sind mit einer Pandemie konfrontiert, die sie erst einmal verstehen müssen. Wie stecken sich die Menschen am häufigsten an? Warum sind Männer stärker betroffen? Und welcher Wirkstoff hilft? Der Informationsbedarf ist riesig.

Studie zum Abstandhalten beim Joggen
Virenflug eines voranlaufenden Joggers – aber nur im windstillen Labor. Das Fazit für die Praxis ist unklar.bild: pd/TU Eindhoven

Detlef Günther, Vizepräsident für Forschung von der ETH Zürich, sagt es so: «Die ganze Welt ist ein Labor geworden. Alle bemühen sich, einen Beitrag zu leisten.» Während in vielen Instituten die Experimente ruhen, die nichts mit dem Virus zu tun haben, zeigt die Forschung zu Covid-19 ein nie da gewesenes Tempo. «Es herrscht im positiven Sinne eine Goldgräberstimmung. Es geht dabei nicht darum, wer als Erster neue Erkenntnisse präsentiert, sondern vielmehr darum, so schnell wie möglich einzelne Puzzleteile zu liefern, um das Gesamtverständnis zu verbessern», sagt Günther.

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Um die Ergebnisse möglichst rasch in den Umlauf zu bringen, greifen Wissenschafter auf Preprint-Server zurück. Das heisst, sie veröffentlichen einen Vorabdruck ohne die Qualitätskontrolle ihrer Fachkollegen. Denn das sonst übliche Peer-Review durch mindestens zwei unabhängige Begutachter dauert häufig Wochen, wenn nicht Monate.

Forschung in Echtzeit – das ist aussergewöhnlich

Dass so viele wissenschaftliche Ergebnisse innert Stunden geteilt werden, ist neu. Als 2003 die Krankheit Sars sich ausbreitete, sind nur sieben Prozent aller Studien noch während der Epidemie publiziert worden. Die Mehrheit ist im Nachhinein erschienen. Das zeigt eine Analyse, die in der Fachzeitschrift «Plos» erschienen ist.

Zwei bedeutende Preprint-Server für Biologie und Medizin sind bioRxiv (Bio-Archive ausgesprochen) und Med­Rxiv. Bis am Montag sind auf diesen Plattformen mehr als 1900 Studien zu Covid-19 respektive Sars-CoV-2 erschienen. Nur: Wie verlässlich sind die Ergebnisse, wenn sie ohne fachliche Kontrolle und den qualitätssichernden Peer-Review-Prozess ins Netz gestellt werden?

Auch bei online publizierten Studien werde in der Regel rasch auf Mängel aufmerksam gemacht, sagt Torsten Schwede, Vizerektor Forschung von der Universität Basel. Er verweist auf einen Artikel, der Ende Januar eine Ähnlichkeit zwischen dem HI- und Sars-Cov-2-Virus suggerierte.

«Als Wissenschafter müssen wir vorsichtig sein, wie wir unsere Ergebnisse präsentieren und diskutieren.»
Torsten Schwede

Die Meldung verbreitete sich über die sozialen Medien rasant. «Der angebliche Zusammenhang war jedoch falsch», sagt Schwede. Doch Wissenschafter reagierten umgehend: Sie zerpflückten den Inhalt und informierten die Öffentlichkeit über Twitter. «Innert 48 Stunden zogen die Autoren die Studie zurück», sagt Schwede.

Der Fall zeigt auch: Wissenschaftliche Debatten verschieben sich vom Elfenbeinturm ins Netz. «Die Pandemie hat einen enormen Schub in der digitalen Wissensbereitstellung ausgelöst und ‹Open Data› stark begünstigt», sagt Daniel Candinas, Vizerektor Forschung der Universität Bern.

Auch Torsten Schwede findet es gut, dass nicht nur in internen Kreisen debattiert wird. Gleichzeitig gibt er zu bedenken: «Als Wissenschafter müssen wir vorsichtig sein, wie wir unsere Ergebnisse präsentieren und diskutieren. Für die Medien und die Öffentlichkeit wird es schwierig, wenn sich die beiden Ebenen der Wissenschaftskommunikation und der Peer-Diskussionen vermischen. Die Diskussion um Hydroxy­chloroquin hat diesbezüglich die Schwierigkeiten aufgezeigt.»

Donald Trump verkündet angebliches Heilmittel und erzürnt Wissenschafter weltweit

Hydroxychloroquin wird zur Prophylaxe gegen Malaria eingesetzt oder zur Behandlung von rheumatischen Krankheiten. Im Rahmen einer französischen Studie mit kleiner Fallzahl wurde das Mittel Covid-19-Patienten verabreicht. Die Ergebnisse stellten die Forscher online, aufgrund ihrer Vorgehensweise gerieten sie jedoch massiv in Kritik.

US-Präsident Donald Trump fühlte sich dennoch dazu berufen, den Durchbruch von Chloroquin zu verkünden. Wissenschafter mussten in der Folge mühsam die Fakten bereinigen: Eine tragfähige klinische Studie liegt bis heute nicht vor, die Wirksamkeit ist unklar.

Selbst Physiker forschen zum Coronavirus

Ebenfalls für grosse Aufregung haben die Ergebnisse einer belgisch-niederländischen Forschergruppe mit Fachgebiet Aerodynamik gesorgt. Unter der Leitung von Bert Blocken veröffentlichte diese eine Computersimulation von Tröpfchenwolken bei Joggern und Radfahrern. Dabei kamen die Forscher zum Schluss: Wenn man sich direkt im Windkanal eines anderen rennenden oder radelnden Freizeitsportlers befindet, reicht der Abstand von zwei Metern nicht aus. Doch es war eine Computersimulation – in der Realität weht meistens Wind. Luftströme verändern die Bedingungen.

Die Ergebnisse verbreiteten sich jedoch verkürzt. In der Folge prasselte Kritik auf den Studienleiter Bert Blocken ein. Er wehrte sich auf Twitter, falsch verstanden worden zu sein, und sagte gegenüber dem amerikanischen Magazin «Wired»: «Die Absicht war, die Menschen zu ermutigen, dass sie hinsichtlich Distanzen etwas aufpassen sollten.»

Wie hilfreich ist es, wenn selbst Gebäudephysiker Studien zu Sars-CoV-2 veröffentlichen? Detlef Günther von der ETH Zürich sagt: «Schlussfolgerungen müssen seitens der Wissenschafter vorsichtig formuliert werden. Dennoch braucht es bei dieser Pandemie Expertinnen und Experten aus allen Fachgebieten – vom Ingenieurwesen über die Naturwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften.»

Viele möchten ein Stück des Coronavirus-Kuchens

Während die Erkenntnisse wertvolle Puzzleteile sein können, ist nicht auszuschliessen, dass es manchmal schlicht um Aufmerksamkeit geht. Katja Rost, stellvertretende Leiterin des Kompetenzzentrums «Chess», das an der Uni Zürich Hochschul- und Wissenschaftsforschung betreibt, findet, es gehe darum, schnell mit der Forschung anzufangen, aber nicht kleine Salamistückchen zu präsentieren. «Jeder hat einen Anreiz, möglichst schnell ein Stück vom Kuchen abzubekommen», sagt sie. «Man muss also unterscheiden zwischen dem Dienst an der Gesellschaft und persönlichen Anreizen im Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung.»

Die Wahrheit ist einzig die, dass das ganze Puzzle noch niemand beisammenhat.

War folgende Meldung von Forscher der Universität in Wuhan eine solche Salamischeibe? Sie meldeten vier Fälle von Neugeborenen, die das Virus ihrer Covid-19-positiven Mütter in sich trugen, obwohl sie per Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren. Arzt Zhi-Jiang Zhang bilanzierte: «Unsere Studie zeigt, dass eine Infektion im Uterus nicht ausgeschlossen werden kann, aber dass die Prognose für die Mütter und die neugeborenen Kinder gut ist.» Alle hatten nur milde Symptome. Alle vier. Die Botschaft wird gerne gelesen, denn sie stimmt optimistisch. Doch mehr als ein Hinweis ist sie nicht.

Daniel Candinas sagt dazu: «Mit zunehmender Öffnung und Transparenz ist die Leserschaft gefordert. Sie muss selbstständig beurteilen, ob Methodik, Resultate und Schlussfolgerungen übereinstimmen.»

Politik verlangt rasche Antworten

Candinas gibt zu bedenken, dass das Peer-Review-System auch nicht die absolute Garantie für höchste Qualität sei. Dem pflichtet Katja Rost bei: «Die Gutachterverlässlichkeit ist gerade bei den hoch innovativen Projekten oft sehr gering. Der eine Gutachter empfiehlt Annahme, der andere lehnt ab, weil die Qualitätskriterien sehr vage und subjektiv sind.»

Problematisch findet sie bei den meisten Coronastudien aber, dass sie sehr eilig gestrickt seien. «Damit fehlen viele theoretische Vorüberlegungen, die man sonst in der Wissenschaft anstellt und mit Peers diskutiert.»

Klar ist: Die chaotische Phase geht vorbei. Bei der Suche nach wirksamen Medikamenten gegen Covid-19 folgen nun grössere klinische Studien. Coronapatienten, die freiwillig mitmachen, erhalten entweder ein Medikament oder ein Placebo. Denn um Therapien für die breite Bevölkerung zuzulassen, braucht es Sicherheit, nicht nur ein Hoffnungsschimmer.

Das Problem ist nur, dass die Politik bezüglich Ansteckungsgefahr und Massnahmen gesicherte Studienresultate nicht abwarten kann: Und so öffnet Deutschland die Schulen zuerst für die älteren Schüler, die Schweiz zuerst für die jungen – und in Schweden waren sie gar nicht zu. Hierzulande schreien die einen «Lockerung!», die anderen «Leichtsinn!» oder «mehr Masken!» und die Wahrheit ist einzig die, dass das ganze Puzzle noch niemand beisammenhat.

Extrem schnelle Wissenschaft: Der Geruchsverlust kommt häufig ohne laufende Nase vor
Letzte Woche veröffentlichte ein internationales Forscherteam um Ahmad Sedaghat einen Bericht über den typischen Geruchsverlust (Anosmie) bei an Covid-19 erkrankten Patienten. Als Co-Autorin dabei ist Marlene Speth, Assistenzärztin in der HNO-Klinik des Kantonsspitals Aarau. Sie arbeitet schon länger mit diesem internationalen Team zusammen und sagt: «So schnell haben wir noch nie etwas herausgebracht.» Innerhalb von nur ein bis zwei Wochen sei die Arbeit entstanden.

Dabei ging es darum eine Übersichtsstudie aus den einzelnen Fallstudien zu Patienten zu machen, die während der Krankheit ihren Geruchssinn verloren hatten. «Es kursierte Verschiedenes dazu und wir wollten einen Überblick schaffen», sagt Marlene Speth. Sie berücksichtigten 19 Berichte aus verschiedenen Ländern.

«Die Nase spielt eine grosse Rolle bei Covid-19», sagt Marlene Speth, «da dort viel Virus produziert wird, welches weitergegeben werden kann.» Deshalb sei der Geruchsverlust ein wichtiges Anzeichen für die Krankheit – besonders, wenn der Patient keine verstopfte Nase habe. Die mit Covid-19 assoziierte Anosmie kommt häufig ohne laufende Nase vor. Über den Schweregrad der Krankheit sage Geruchs- und auch Geschmacksverlust aber nichts aus.

Es ist nicht klar, wie die Viren auf das Riechorgan wirken. Bekannt ist nur, dass auch Grippeviren den Geruchssinn vorübergehend – in seltenen Fällen dauerhaft – ausschalten können. Marlene Speth sagt, die Unterstützung bei dieser Studie mitten in der Coronakrise sei auch von Kollegen und ihrem Chef gross gewesen: Viele halfen beim Sammeln von Hinweisen. (kus)
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