Es war das schlimmste Schiffsunglück in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: Mitten in der Nacht sank die Ostsee-Fähre «Estonia» am 28. September 1994 auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm. 852 Menschen fanden den Tod, nur 137 überlebten. Für den Untergang der Fähre vor der Südküste Finnlands war gemäss dem offiziellen Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 das bei schwerer See abgerissene Bugvisier verantwortlich.
Doch die Spekulationen über mögliche andere Ursachen der Katastrophe – etwa ein Bombenanschlag oder ein Zusammenstoss mit einem U-Boot – hörten nie auf. Sie werden nun durch aufsehenerregende neue Informationen zum Wrack der «Estonia» genährt. Die am Montag veröffentlichte ausführliche Fernsehdokumentation «Estonia – der Fund, der alles ändert» hat ein bisher unbekanntes Bild des in 80 Meter Tiefe liegenden Wracks gezeigt, das mithilfe eines Tauchroboters aufgenommen wurde. Darauf ist ein vier Meter langer Riss mit einem Loch in der Mitte erkennbar. Die Beschädigung befindet sich in der rechten Aussenwand des Schiffsrumpfs unter der Wasserlinie.
Die Aussenminister aus Finnland, Estland und Schweden haben umgehend auf die mehrteilige Dokumentation reagiert: Sie erklärten, eine mögliche Untersuchung solle gemeinsam stattfinden. Am Donnerstag beschloss die estnische Regierung, eine weitere Untersuchung des Unglücks vorzubereiten. Dazu beauftragte das Kabinett das Aussenministerium, die finnischen und schwedischen Behörden zu konsultieren.
«Wir werden weiterhin mit Finnland und Schweden zusammenarbeiten, um alle Fragen zu klären, die sich angesichts der neuen Informationen ergeben haben. Für uns ist es äusserst wichtig, dass weitere Untersuchungen unabhängig, transparent und glaubwürdig sind», wurde Estlands Regierungschef Jüri Ratas in einer Mitteilung zitiert. Dabei müssten zudem die Erkenntnisse früherer Untersuchungen berücksichtigt und der über die Fähre verhängte Grabfrieden beachtet werden.
Die Beachtung des Grabfriedens – also das Verbot, die Totenruhe im Wrack zu stören – ist anscheinend kein leerer Gesetzesbuchstabe. Zwei Mitglieder der TV-Crew, darunter der schwedische Regisseur Henrik Evertsson, müssen sich nun deswegen vor einem schwedischen Gericht verantworten. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Gefängnis, wie die «Süddeutsche» berichtet. Dies entbehrt nicht einer gewissen makabren Ironie – immerhin fordern ausgerechnet mehrere Hinterbliebene und Überlebende seit langem, dass die Untersuchungen wiederaufgenommen werden. Sie dürften sich darüber freuen, dass die Dokumentation ihrer Forderung offensichtlich Nachdruck verleiht.
Überdies war es ausgerechnet die schwedische Regierung, die kurz nach dem Unglück vorschlug, die gesamte Fundstelle des Wracks mit einem Beton-Sarkophag einzuschliessen, um die Totenruhe zu gewährleisten. Dies hätte sämtliche weiteren Untersuchungen verunmöglicht. Noch bevor der Plan abgesegnet war, schütteten Schiffe Geröll über das Wrack – bis Proteste von Angehörigen dies stoppten.
Die seltsame Eile, mit der Schweden das Wrack zudecken wollte, war nicht geeignet, Spekulationen über mögliche schwedische Vertuschungsversuche die Grundlage zu entziehen. Hinzu kam, dass Stockholm mit anderen Ostseestaaten 1995 ein Bannmeilenabkommen abschloss, das ein Sperrgebiet um das Wrack legte. Erst Jahre später, Ende 2004, wurde bekannt, dass die «Estonia» mindestens zweimal Militärelektronik und Waffenteile aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion nach Schweden transportierte – und dass diese geheimen Transporte nicht kontrolliert werden durften.
Auch dies befeuerte Zweifel am offiziellen Untersuchungsbericht über die Ursache für den Untergang der Fähre. Gemäss diesem Bericht waren die Scharniere der Bugklappe aufgrund der schweren See mit vier Meter hohen Wellen starken Belastungen ausgesetzt und brachen. Da der unerfahrene Kapitän trotz der Probleme die Fahrt nicht minderte, brach das Bugvisier ab, worauf grosse Mengen von Wasser schnell in das Schiff strömten. Die Fähre bekam starke Schlagseite und sank sehr schnell; die meisten Passagiere konnten das Schiff nicht rechtzeitig verlassen. Eine 2005 durchgeführte Computer-Simulation bestätigte diese Version weitgehend und zeigte, dass die meisten Passagiere aufgrund der Schräglage keine Chance hatten, an Deck zu gelangen.
Ein Gutachten von Experten kam hingegen 1999 zum Schluss, die Bugklappe der «Estonia» sei durch mindestens zwei Explosionen abgesprengt worden. Das Gutachten war allerdings durch die Meyer-Werft in Auftrag gegeben worden, die das Schiff gebaut hatte und sich deshalb mit Zivilklagen von Überlebenden und Angehörigen konfrontiert sah. Deformationen an geborgenen Wrackstücken wurden von unabhängigen Instituten als Folge einer Detonation eingestuft, während die deutsche Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung die Strukturveränderungen auf eine normale Rostschutzbehandlung zurückführte.
Der durch die TV-Dokumentation bekannt gewordene Riss im Schiffsrumpf spricht hingegen für eine Kollision mit einem U-Boot als Untergangsursache, wie etwa der frühere estnische Staatsanwalt und «Estonia»-Ermittler Margus Kurm feststellte. Zur Frage, weshalb es 26 Jahre dauerte, bis dieser Riss bekannt wurde, sagte Kurm, die erste Untersuchung durch Taucher habe eventuell diesen Teil des Wracks nicht ausreichend sorgfältig geprüft. Möglich sei aber auch, dass niemand davon erfahren sollte. Kurm wies darauf hin, dass es nur zwei Originalkopien der Unterwasseraufnahmen von 1994 gegeben habe – eine sei vernichtet worden, die andere sei verschollen. Die erste Untersuchungskommission habe lediglich edierte Kopien erhalten, auf denen der Riss nicht zu sehen sei.
Man darf annehmen, dass eine neue unabhängige Untersuchung angesichts dieser Umstände auf grosses Interesse stossen dürfte.
(dhr, mit Material der Nachrichtenagentur SDA)