General Navarre ahnte vermutlich nicht, wie entscheidend die Entscheidungsschlacht sein würde, die er gesucht hatte. Der Befehlshaber des französischen Fernost-Expeditionskorps CEFEO wollte seinen ungreifbaren Feind – die Guerillakämpfer der Viet Minh – in eine offene Feldschlacht verwickeln. So würde sich die militärische Überlegenheit der Franzosen geltend machen, glaubte der Stratege.
Navarre bekam seine Schlacht. Sie besiegelte das Ende seiner Karriere – und der französischen Kolonialherrschaft in Indochina. Die Eroberung der Dschungelfestung Dien Bien Phu war eine strategische und logistische Glanzleistung der Viet Minh, die den Franzosen das Genick brach. Zum ersten Mal hatte eine Armee von Dritt-Welt-Bauern eine europäische Kolonialmacht besiegt. Wie konnte das geschehen?
Rückblende: 1945 kapituliert das Japanische Kaiserreich, der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Nun will Frankreich seine bisher von japanischen Truppen besetzte Kolonie Indochina wieder in Besitz nehmen. Doch die Verhältnisse haben sich geändert: Die vietnamesische Widerstandsorganisation der Viet Minh, die – mit amerikanischer Unterstützung – gegen die Japaner gekämpft hat, gründet im Norden Vietnams die Demokratische Republik Vietnam unter Präsident Ho Chi Minh. Die Viet Minh sind alles andere als erfreut über die Rückkehr der Kolonialherren.
Und diese sind vom Krieg geschwächt. Frankreich, zwar Siegermacht des Zweiten Weltkriegs, ist noch traumatisiert von der Niederlage, die ihr die Wehrmacht 1940 im Blitzkrieg zugefügt hat. Nur mit finanzieller und logistischer Hilfe der USA schafft es die Kolonialmacht, ein Expeditionskorps auszurüsten und nach Indochina zu verschiffen. Im Dezember 1946 befinden sich bereits 89'000 Soldaten im Land. Bis 1954 wächst das Expeditionskorps CEFEO auf 204'000 Mann, dazu kommen noch über 300'000 einheimische Soldaten.
Es ist eine bunt gemischte Truppe, mit der Paris seine Kolonie zurückgewinnen will: Da keine Wehrpflichtigen eingesetzt werden, besteht das CEFEO überwiegend aus Freiwilligen, Kolonialtruppen aus Nordafrika und – als kampfkräftigste Einheiten – Fremdenlegionären. Über die Hälfte von letzteren sind Deutsche, oft junge Weltkriegsveteranen, teilweise auch ehemalige Waffen-SS-Mitglieder.
Ihr Gegner ist gut organisiert, und er wird im Lauf des Krieges immer besser. Die Truppen der Viet Minh umfassen nicht nur Guerilla-Kämpfer, sondern auch reguläre Einheiten. Ihre anfänglich schlechte Ausrüstung verbessert sich ab 1949, als ihnen China nach dem Sieg der Kommunisten grosse Mengen an Waffen liefert.
Im Frühjahr 1954 ist der Kolonialkrieg in Indochina längst zu einem heissen Teil des Kalten Krieges geworden. Und er ist nicht mehr zu gewinnen: Nur noch im Süden kontrollieren die Franzosen grosse zusammenhängende Gebiete, während die Viet Minh das zentrale Hochland und den bergigen Norden beherrschen. Dort halten die Franzosen nur noch das Delta des Roten Flusses mit Hanoi und der Hafenstadt Haiphong. Ohne US-Hilfe können die französischen Truppen überdies gleich einpacken: Die Amerikaner finanzieren mittlerweile gegen 80 Prozent der Kriegskosten.
General Navarre sucht einen Ausweg aus der verfahrenen Situation. Er weiss, wenn es ihm gelingt, die Vietnamesen in eine offene Schlacht zu verwickeln und vernichtend zu schlagen, kann Paris nach acht Jahren Krieg doch noch einen Waffenstillstand zu seinen Bedingungen aushandeln.
Der Ort, den Navarre für seine Falle auswählt, ist ein gottverlassenes Nest hart an der laotischen Grenze: Dien Bien Phu. 250 Kilometer von Hanoi entfernt, liegt das Dorf in einem 16 Kilometer langen und 9 Kilometer breiten Talkessel, der auf drei Seiten von bis zu 550 Meter hohen Hügeln umgeben ist. Nur gegen das laotische Tiefland hin ist die feuchte, oft überschwemmte Ebene geöffnet.
Hier, in diesem Rückzugsgebiet der Viet Minh, landen im November 1953 französische Fallschirmjäger und übernehmen Dien Bien Phu, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stossen. Darauf stampfen die Franzosen eine Festung aus dem sumpfigen Boden. Sie besteht aus mehreren mit Minenfeldern, Stacheldraht und Schützengräben befestigten Stützpunkten, die sich gegenseitig unterstützen können.
Im Zentrum legen die Franzosen eine Landebahn an – die abgelegene Festung soll aus der Luft versorgt werden. Dies, obwohl der Befehlshaber der Transportstaffeln des CEFEO zuvor darauf hingewiesen hat, die Versorgung von Dien Bien Phu könne nicht auf Dauer sichergestellt werden. Für den Fall, dass die Rollbahn nicht nutzbar ist, richten die französischen Pioniere zudem Abwurfstellen ein.
Die Versorgung aus der Luft funktioniert zu Beginn hervorragend. Zu Weihnachten 1953 gibt es bei den Fallschirmjägern Roastbeef mit gebackenen Kartoffeln, französische Käse, Kuchen, Wein und sogar Champagner. Später müssen die Soldaten oft mit Kampfrationen Vorlieb nehmen; statt Wein gibt es Vinogel, eine Paste aus dehydriertem und danach geliertem Wein – nichts für Feinschmecker.
Anfang März 1954 verfügt der französische Kommandant von Dien Bien Phu über eine Garnison von beinahe 10'000 Mann. Die meisten von ihnen sind Einheimische in französischen Diensten, daneben Fremdenlegionäre, Fallschirmjäger und nordafrikanische Kolonialtruppen. Sie sind mit schweren Maschinengewehren, 24 Mörsern, 28 105-mm-Haubitzen und vier Luftabwehrgeschützen ausgerüstet. Sogar zehn leichte Panzer haben die Franzosen nach Dien Bien Phu geflogen.
Mitte März schliesst eine Streitmacht von über 72'000 Viet-Minh-Kämpfern unter General Vo Nguyen Giap die Garnison ein. Dies ist ganz im Sinne des französischen Plans – die schlecht ausgerüsteten vietnamesischen Truppen sollen beim Angriff auf die Stützpunkte in Dien Bien Phu schwere Verluste erleiden oder gleich ganz aufgerieben werden.
Doch die Franzosen unterschätzen die Artillerie der Viet Minh. In einer logistischen Meisterleistung zerlegen die Vietnamesen über 100 Geschütze, die sie von der Volksrepublik China erhalten haben, in Einzelteile und schleppen sie auf getarnten Dschungelpfaden über die Berge bis nach Dien Bien Phu. Dort bringen sie die Kanonen auf den Hügelflanken, die vom Talkessel aufsteigen, wieder in Stellung – in gut geschützten und sorgfältig getarnten Unterständen, die sie aus dem Fels gehauen haben.
Am 13. März beginnt der vietnamesische Angriff: Nach schwerem Artilleriefeuer überrennen die Viet Minh bereits nach wenigen Stunden den ersten französischen Stützpunkt: Béatrice. Gabrielle fällt zwei Tage später, Anne-Marie am 17. März. Zudem ist die Landebahn durch den Artilleriebeschuss nahezu unbrauchbar geworden.
Nun rächt sich die Leichtfertigkeit der Franzosen. Ihre Geschützstellungen sind nach oben offen, um eine höhere Feuerkadenz zu ermöglichen – doch dies macht sie für feindlichen Beschuss verwundbar. Die Annahme, dass es der eigenen Artillerie gelingen wird, die Geschütze der Viet Minh auszuschalten, erweist sich als mehr als blauäugig – der Versuch scheitert so eklatant, dass der Kommandant der französischen Artillerie Suizid begeht.
Mit den Stellungen der Viet Minh, die die Höhen rund um Dien Bien Phu beherrschen, wird auch der Plan zur Makulatur, den im Talkessel gelegenen Stützpunkt aus der Luft zu versorgen. Zwar gelingt es dem CEFEO zunächst, namhafte Verstärkungen einzufliegen – bald befinden sich beinahe 15'000 Soldaten im Kessel. Doch der anhaltende Artilleriebeschuss der Vietnamesen und dann der unablässige Regen zwingen die französische Luftwaffe, sich ab dem 27. März auf den Abwurf von Nachschub zu beschränken.
Prompt landet jeweils ein Teil der abgeworfenen Munition und Lebensmittel beim Feind. Der stete Granatenhagel verschärft die sich zuspitzende Versorgungslage weiter, weil mehrmals Lebensmitteldepots getroffen werden. Nach einem Granattreffer gehen einmal sogar die gesamten Tabakvorräte in Rauch auf. Zudem können Verwundete nun nicht mehr ausgeflogen werden, wie es der Plan vorgesehen hat – das Feldlazarett in Dien Bien Phu ist jedoch viel zu klein für die zunehmende Zahl der Verletzten.
Aber auch Giap, der «Napoleon des Ostens», zieht Verstärkungen um die Festung zusammen. Zehntausende von Hilfskräften bauen Strassen durch den Dschungel; vor allem aber legen sie ein System von Gräben an, in denen die vietnamesischen Kämpfer nahe an die befestigten Stellungen der Franzosen herankommen.
Gegen Ende März ziehen die Viet Minh allmählich die Schlinge um die verbleibenden Stützpunkte zu, die mittlerweile wegen des Regens regelrechte Schlammlöcher sind. Der grösste Teil von Dominique ist am 30. März verloren; Mitte April beherrschen die Vietnamesen bereits den gesamten Norden des Talkessels und haben das Rollfeld erreicht.
Am 1. Mai eröffnet Giap den Endkampf um die Festung. Die Viet Minh nehmen einen Posten nach dem andern ein – am 7. Mai sind Claudine, Eliane und PC verloren. Die Franzosen müssen um einen Waffenstillstand ersuchen. Am nächsten Tag fällt auch der letzte Stützpunkt, Isabelle.
Die französischen Verluste während der Schlacht belaufen sich auf über 3000 Gefallene. Mehr als 10'000 Soldaten gehen in Gefangenschaft, aus der nur etwa 3300 zurückkehren. Die Verluste der Vietnamesen sind bedeutend höher, vermutlich um das Dreifache.
Die verheerende Niederlage von Dien Bien Phu zwingt die Franzosen zum Rückzug aus Indochina. Vietnam erlangt endlich seine Unabhängigkeit – doch das Land wird auf der Indochina-Konferenz in Genf entlang des 17. Breitengrades geteilt. Als Schutzmacht des westlich ausgerichteten Südens übernehmen die USA das Erbe Frankreichs. Auch sie werden scheitern.