In den 1930er-Jahren entdeckte die Schweizer Ärztin Marthe Voegeli in ihrem Krankenhaus in Indien etwas Aussergewöhnliches: Setzt man seine Hoden während dreier Wochen jeden Tag eine Dreiviertelstunde lang einer Wassertemperatur von 46 Grad aus, macht ihn das für ein halbes Jahr unfruchtbar. Nach Ablauf dieser Periode kann er wieder gesunde Kinder zeugen. Das war ein Durchbruch in der Verhütung bei Männern. Doch viel weiter ist man noch heute nicht.
Neben Kondomen bleibt Männern heute nur die Vasektomie – ein chirurgischer Eingriff, bei dem die Samenleiter durchtrennt werden. Die Operation kann meist rückgängig gemacht werden. Doch nicht immer ist sie erfolgreich. Im schlimmsten Fall bleibt der Mann unfruchtbar. Dabei besteht Bedarf: Eine im Januar veröffentlichte Studie untersuchte, wie sich eine Männerpille auf ungewollte Schwangerschaften auswirkt. 180 000 von diesen könnten jährlich allein in den USA verhindert werden. Das Potenzial ist riesig: Weltweit gibt es mehr als 80 Millionen ungewollte Schwangerschaften.
Eine Reihe von anderen Studien zeigt zudem, dass die Mehrheit der Männer interessiert ist, ein neues Verhütungsmittel auszuprobieren. Eine 2016 durchgeführte Umfrage des «Daily Telegraph» mit 84 000 Teilnehmern ergab, dass 52 Prozent der Befragten eine Männerpille einnehmen würden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Forschergruppe, die 9000 Männer aus Europa, Amerika und Asien befragte. Warum ist bislang noch keine Pille für den Mann auf dem Markt?
Antworten liefert ein Blick in die Vergangenheit. Der letzte gross angelegte Versuch der Pharmaindustrie begann kurz nach der Jahrtausendwende. Die zwei Pharmaunternehmen Schering und Organon machten klinische Tests, bei denen Männern über ein Implantat in regelmässigen Abständen ein Testosteronpräparat verabreicht wurde. Die Idee dahinter: Ist der Testosteronspiegel ausreichend hoch, setzt die Spermienproduktion aus und der Mann wird nach einem halben Jahr unfruchtbar. Die Tests fielen vielversprechend aus. Bei 91 Prozent der Männer konnte weniger als eine Million Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit festgestellt werden – sie waren also unfruchtbar. Doch 2007 wurden Schering und Organon aufgekauft und die Forschung gestoppt. Nach offiziellen Angaben sah das neue Management zu wenig Marktpotenzial in einer Antibabyspritze.
Drei Jahre später nahm sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Sache an. Diesmal spritzte man den Probanden alle acht Wochen ein Hormonpräparat in den Gesässmuskel. In Pillenform kann der Wirkstoff nicht eingenommen werden, da er sich in der Magensäure auflösen würde. Die WHO-Studie brachte erste gute Resultate: Bei knapp 96 Prozent der Männer konnte die Spermienproduktion weit unter den kritischen Grenzwert reduziert werden. Doch es gab einen Haken: 20 der 266 Männer klagten über Nebenwirkungen wie Akne, Schmerzen und Verstimmungen und brachen die Versuche ab. 2011 stoppte man das Projekt deshalb.
Als die Versuche Jahre später öffentlich wurden, sorgten sie für Aufruhr. Der Vorwurf meist weiblicher Kritiker lautete: Hier werde mit zweierlei Mass gemessen. Während von Frauen seit der Erfindung der Pille erwartet würde, dass sie Nebenwirkungen hormoneller Verhütungsmittel schweigend hinnehmen, würde Forschung an Männern bereits beim Auftreten negativer Effekte abgebrochen.
Dabei gibt es längst auch andere, alternative Methoden, die weniger Nebenwirkungen hervorrufen. Diese setzen auf eine medikamentöse Manipulation bestimmter Proteine. Dadurch sollen Spermien unbeweglich gemacht und daran gehindert werden, in die Eizelle einzudringen. Vielversprechend ist ein Wirkstoff der in Asien wachsenden Pflanze Gendarussa. In Indonesien benutzen Stämme diese bereits seit Jahrhunderten zu Verhütungszwecken. Klinische Versuche im asiatischen Land belegten dessen Wirkung: Anders als bei hormonellen Verhütungsmitteln ist mit schwachen Nebenwirkungen und einer Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit innert weniger Tage nach Absetzen des Medikaments zu rechnen. Doch auch das ist eine Sackgasse: Für eine Zulassung im Westen müssten die Tests unter strengeren Bedingungen wiederholt werden. Dies würde bis zu fünfzehn Jahre dauern.
Ein anderer Ansatz mit ebenfalls wenigen Nebenwirkungen geht auf das Verhütungsmittel Risug (Reversible Inhibition of Sperm Under Guidance) zurück. Dieses hat der indische Mediziner Sujoy Guha in den Siebzigern entwickelt. Ein Gel, das direkt in die Spermienleiter gespritzt wird und wie eine Barriere wirkt. Diese lässt zwar Flüssigkeit durch, aber keine Spermien. Das Gel soll zehn Jahre lang wirken und kann laut Guha durch die Verabreichung eines zweiten Mittels jederzeit aufgelöst werden. Risug wurde erfolgreich getestet. Doch wurde auch daraus nichts. Bis die US-amerikanische Parsemus Foundation das Patent kaufte. Die Stiftung will das Mittel in leicht veränderter Form unter dem Namen Vasalgel in den USA auf den Markt bringen. Versuche an Kaninchen und Affen waren zwar erfolgreich, doch wann Tests an Menschen beginnen, ist offen.
Nachdem bislang alle Versuche gescheitert sind oder nicht vorankommen, springt nun der US-amerikanische Staat ein. Ab diesem April will das Gesundheitsministerium ein neues Verhütungsmittel testen. Dabei soll durch das synthetische Schwangerschaftshormon Nestoron der Testosteronspiegel in den Hoden gesenkt werden, um so die Spermaproduktion zu hemmen. Das Mittel soll als Gel auf die Haut aufgetragen werden. 400 Paare nehmen an der Studie teil. Eine sechsmonatige Vorgängerstudie war bereits erfolgreich. Doch: Laut den Forschern dauert es Jahre, bis das Mittel marktfähig ist. Allein die Studie nimmt vier Jahre in Anspruch und eine Zulassung macht meist noch weitere klinische Versuche notwendig.
Alle Versuche, eine Pille für den Mann zu entwickeln, scheitern an einer Hürde: den Kosten – und der Verfügbarkeit der Pille für die Frau. Die Zulassung eines neuen Medikaments ist ein langwieriger Prozess, der Summen im neunstelligen Bereich verschlingen kann. Die Pharmaunternehmen investieren deshalb nur in Medikamente, die ein lukratives Geschäft versprechen. Und kleinere Organisationen können es sich schlicht nicht leisten.
Die Non-Profit-Organisation Male Contraceptive Initiative (MCI), die sich seit 2014 für die Entwicklung einer Männerpille einsetzt, sieht deshalb schwarz. Sie geht davon aus, dass bis zu zwanzig Jahre vergehen werden, bis ein eine solche auf den Markt kommt. Vor allem eine, die mit der Antibabypille für die Frau vergleichbar ist. Solange diese Geld in die Kassen spült, Schutz bietet und gesellschaftlich akzeptiert ist, wird in der Pharmaindustrie kein Umdenken stattfinden. (aargauerzeitung.ch)