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Frauen der Geschichte

Frauen gegen Nazis: Kommunistin Freddie Oversteegen verführte und tötete

Freddie verführte und erschoss Nazis vom Velo-Gepäckträger aus

Frauen der Geschichte
In dieser Serie wollen wir euch 7 Frauen vorstellen, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben. Heute Teil I: Freddie Oversteegen (1925–2018), die kommunistische Widerstandskämpferin aus den Niederlanden.
14.06.2019, 16:52
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Freddie entsichert ihre Pistole und setzt sich auf den Gepäckträger eines Fahrrads. Ihre Mutter tritt in die Pedale. Und als sie am Nazi-Offizier vorbeifahren, schiesst sie.

Es war das Jahr 1941 in der von der Wehrmacht besetzten niederländischen Stadt Haarlem. Freddie war 15 – und der Nazi tot.

Die 19-jährige Freddie im Frühling 1945 beim Stricken.

Ihre Mutter Trijntje war überzeugte Kommunistin und alleinerziehend noch dazu. Sie hatte sich eines Tages von ihrem Mann scheiden lassen, weil sie die Schnauze voll hatte. Niemals brachte er Geld nach Hause. Damals wohnte die Familie noch in einem grossen Boot. Und als der Vater den Kahn für immer verliess, sang er ihnen vom Bug aus ein französisches Abschiedslied.

Am 10. Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht die neutralen Niederlande und fünf Tage später unterzeichnet General Winkelman in einem Schulgebäude in Rijsoord die Kapitulation. In den kommenden fünf Jahren herrschen die Deutschen über das Land. Es galt, das «artverwandte germanische Volk» zu nazifizieren – alle anderen aber auszulöschen. Schon in den ersten Monaten nach dem Angriff nehmen sich Hunderte Juden das Leben – viele von ihnen waren in den 30ern aus Deutschland geflüchtet.

Und die übrigen werden nun vom Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart verfolgt. Ein Österreicher und eine von Hitlers «Anschluss-Marionetten». Als er an die Spitze der Niederlande gesetzt wird, ist er bereits SS-Obergruppenführer. Von dort aus wird er die Zwangsarbeit einführen, etliche Widerstandskämpfer erschiessen und 100'000 niederländische Juden in Vernichtungslager deportieren lassen.

Die Oversteegens halten ein jüdisches Paar in ihrem Häuschen versteckt, in dem sie jetzt wohnen. Platz ist da eigentlich keiner. Freddie, ihre zwei Jahre ältere Schwester Truus und ihr kleiner Halbbruder schlafen auf Strohmatratzen, die ihre Mutter selbst gemacht hat.

Freddie täuschte die Deutschen mit ihrem unschuldigen Aussehen über ihre wahren Absichten hinweg.

Die deutschen Soldaten schlagen die Türen mit den Kolben ihrer Gewehre ein. Sie schreien immerzu und reissen die Leute aus ihren Häusern.

Irgendwann klopft ein Mann mit Hut an der Tür der Familie. Es ist Frans van der Wiel, der Kommandeur der Kommunistischen Widerstandsgruppe Raad van Verzet (RVV). Er fragt Trijntje, ob sich ihre Töchter dem Widerstand anschliessen wollten. Schliesslich haben die Mädchen bereits die linke Untergrundzeitung «De Waarheid» und antifaschistische Flugblätter an die Menschen ihrer Stadt verteilt. Die Mutter sagt zu und gibt ihren Kindern eine Regel mit auf den Weg: «Bleibt immer menschlich.»

Fortan gehören sie zu einer siebenköpfigen Zelle, alles Mädchen. In einem abgelegenen Kartoffelschuppen lernen sie zu überleben, zu marschieren und zu schiessen.

Der RVV observiert ranghohe Offiziere der Gestapo und der SS und gibt dann präzise Instruktionen für einen Anschlag. Und so findet sich Freddie bald auf einem Ausguck im Wald wieder. Sie sieht ihre Schwester, wie sie mit dem Nazi durch die Bäume spaziert. Sie hat ihn in einer teuren Bar aufgegabelt. Ihn angelächelt und ihn gefragt, ob er nicht eine Runde rausgehen mag. Er mochte.

Bis die Schüsse kamen und er tot umfiel. Das Loch für die Leiche hatten die Widerstandskämpfer bereits davor ausgehoben.

Mit 90 Jahren besuchte Freddie jenen Tatort noch einmal. Die Dokumentarfilmemacher Manon Hoornstra und Thijs Zeeman überzeugten sie davon, für «Twee zussen in verzet» (Zwei Schwestern im Widerstand), der 2016 erschienen ist. Auf dem Weg dahin begann Freddie auf dem Rücksitz des Autos plötzlich zu singen. Es war das Lied, das sie früher immer sang, wenn sie Angst hatte. Das Komintern-Lied.

«Wir haben die Besten zu Grabe getragen,
Zerfetzt und zerschossen und blutig geschlagen,
Von Mördern umstellt ins Zuchthaus gesteckt,
Uns hat nicht das Wüten der Henker geschreckt ...»
Komintern-Lied (1929), Hanns Eisler

Sie war sich sicher, dass der Mann noch immer irgendwo dort unter der Erde liege. Denn wie er ins Loch geworfen wurde, das hat sie nicht gesehen. Das war die Aufgabe der Männer.

Dass Widerstand nicht die Sache von 14- und 16-jährigen Mädchen war, das dachten auch die Nazis. Niemand kontrollierte sie, wenn sie mit ihren Fahrrädern und Pistolen an Strassensperren und Kontrollpunkten vorüberflitzten. Keiner ahnte Böses, wenn die kleine, zarte Freddie mit ihrem hohen Stimmchen einen Mann aus dem Restaurant lockte.

1943 schliesst sich den Schwestern die berühmteste aller niederländischen Widerstandskämpferinnen an. Hannie Schaft, eine Jurastudentin. Von den deutschen Besatzern wird sie nur «das Mädchen mit dem roten Haar» genannt. Die drei verstehen sich bald blind. Sie schmuggeln Waffen und gefälschte Ausweispapiere, sprengen Strassen und Brücken. Am 1. Mai hissen sie im Nazi-Hauptquartier in Utrecht die kommunistische Flagge.

Truus als Mann verkleidet (links) und Hannie mit schwarz gefärbtem Haar und einer falschen Brille (rechts). Wahrscheinlich geben sie sich für einen Einsatz als Pärchen aus.

Um die jüdischen Kinder zu retten, müssen sie manchmal durch Minenfelder gehen oder den alliierten Bomben ausweichen, die über ihnen vom Himmel fallen.

Als die Hausdurchsuchungen bei den Oversteegens immer häufiger werden, muss die Widerstandsgruppe das dort versteckte jüdische Paar woanders in Sicherheit bringen. Doch man erwischt und verhaftet sie. Freddie wird nie wieder etwas von den beiden hören.

Sie verriet nie, wie viele Nazis und Nazi-Kollaborateure sie getötet hat.

«So etwas sollte man eine Soldatin nicht fragen. Wir mussten es tun. Es war ein notwendiges Übel. Man erschiesst in erster Hinsicht nicht einen Menschen, sondern den Feind.»
Freddie Oversteegen

Sie hasste sich ein Leben lang dafür.

Als Freddie, Truus und Hannie den Auftrag erhalten, die Kinder von Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart zu entführen, lehnen sie ab. Der RVV wollte sie gegen gefangene Mitglieder eintauschen. Doch bei einem Fehlschlag hätten die Geiseln erschossen werden müssen. «Widerstandskämpfer töten keine Kinder», sagt Freddie später.

Sie und ihre Schwester Truus überlebten den Krieg. Hannie nicht. Ein Attentat scheitert, sie wird entdeckt und gejagt. 50'000 Gulden stehen auf ihren Kopf. Und als sie auf ihrem Fahrrad mit «De Waarheid» und einer Pistole im Korb in eine Strassenkontrolle gerät, wird sie erkannt. Ihre Haare sind schwarz gefärbt, aber das Rot der Wurzeln schimmert noch immer verräterisch hervor. Tagelang foltern sie die Nazis. Am 17. April 1945 wird sie in den Sanddünen westlich von Haarlem hingerichtet. 18 Tage vor der Befreiung der Niederlande. Hannie war 24 Jahre alt.

Beerdigt wird sie im Beisein von Prinzessin Juliana auf dem Ehrenfriedhof Bloemendaal. Auch das Wilhelmina-Widerstandskreuz wird ihr posthum verliehen. Aber als dann die McCarthy-Ära mit ihrem von Verschwörungstheorien durchtränkten Antikommunismus anbrach, galt es, sich nicht mehr länger an Hannie zu erinnern. 1951 verhindert man mit Panzern eine Gedenkfeier an ihrem Grab.

Freddie leidet. Sie muss zusehen, wie in ihrem Land, für dessen Freiheit sie doch so erbittert gekämpft hatte, Nazi-Kollaborateure in hohe Staatsämter wandern, während linke Widerstandskämpfer mundtot gemacht werden. Ihre zarte Stimme, die im Krieg so manch einen Nazi zu verführen vermochte, wollte im Frieden niemand mehr hören.

Erst 2014 erhielten sie und ihre Schwester vom niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte einen Militärorden für ihre Verdienste – ein «Akt historischer Gerechtigkeit», wie er es nannte.

«Ich war keine Heldin. Meine Schwester war keine Heldin. Wir haben einfach das Richtige getan.»
Freddie Oversteegen

Freddie wurde mit dem erlebten Grauen niemals fertig. Sie habe es versucht, indem sie geheiratet und Kinder bekommen habe, sagte sie später. Ihr Sohn Remi aber meint, dass der Krieg im Kopf seiner Mutter immer und immer weiter getobt habe. «Es hörte nicht auf, auch nicht bis zum letzten Tag.»

Der letzte Tag war der 5. September 2018. Da wurde es endlich still in Freddies 93-jährigem Kopf.

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Auch im Krieg muss man mal. Damit nicht einfach wild in die Schützengräben gemacht wurde, benutzten die Soldaten Eimer oder einfache Latrinen, die aus einer Grube mit einem darüberliegenden Balken bestanden. War sie voll, wurde sie zugeschüttet und eine neue ausgehoben. Hier sehen wir deutsche Soldaten bei dem wohl willkommenen Zweckentfremden ihrer Gasmasken. Bild: vintag.es
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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MarGo
14.06.2019 17:02registriert Juni 2015
Gänsehaut...
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Trouble
14.06.2019 17:43registriert Februar 2016
Wie immer sehr, sehr toll geschrieben. Danke
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Neruda
14.06.2019 17:33registriert September 2016
Danke Anna für diesen berührende Bericht. Freddie hatte keine Wahl, sie musste mit den Folgen der Wahl des deutschen Volkes leben und ihre Kindheit opfern. Darum gehen uns Wahlen im europäischen Ausland immer etwas an und darum sollten auch wir immer genau überlegen, was für eine Ideologie wir wählen!
Ich freue mich auf jeden weiteren Artikel, der zeigt, welch grosse Arbeit Frauen geleistet haben aber ungerechtigterweise bis heute oft verschwiegen wurde!
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