Die Zeitzeugen sind schon lange tot, doch mit seinen Folgen ist der Erste Weltkrieg immer noch quicklebendig. Er veränderte nicht nur die politische Landkarte Europas, sondern prägt seine äusseren und inneren Beziehungen bis heute.
Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 11. November 1918 wurde der Erste Weltkrieg beendet, was den Weg frei machte für eine komplette Neuordnung der Welt. Das nur mit massiver US-Hilfe gerettete Britische Empire wurde als führende Weltmacht abgelöst, Nationalstaaten traten an die Stelle monarchisch regierter Vielvölkerstaaten wie Russland, Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich.
Die grosse Erschütterung des Kriegsendes lebt fort in jenen tektonischen Platten, auf denen sich Europas Staaten seither anordnen. «Die Feindbilder und gegensätzlichen Positionen, die damals entstanden sind und vorher so nicht da waren, existieren in gewisser Weise bis heute», unterstreicht der österreichische Historiker Arnold Suppan im Gespräch mit der Nachrichtenagentur APA. Als Beispiel nennt er, dass Österreich etwa den Ungarn immer noch «mehr durchgehen» lasse als etwa den Tschechen.
Die vordergründig grösste aktuelle Bedeutung hat der Erste Weltkrieg in Frankreich, das diesen als eine Art nationale Wiedergeburt feiert. Im damaligen Konflikt bewies die chronisch zerstrittene Nation nämlich, dass sie zusammenstehen und unglaubliche Opfer bringen kann.
Die Anrufung des Ersten Weltkrieges dient dazu, die jeweiligen tagespolitischen Gräben zuzuschütten. In Grossbritannien steht vor allem das Gedenken an die Toten des Krieges im Zentrum. Dieses ist im vergangenen Jahrzehnt wegen der neuerlichen Kriegsbeteiligungen des Landes wieder markanter geworden, erläutert der Historiker William Philpott.
Während Grossbritannien und Frankreich aktuelle Militäreinsätze auch unter Verweis auf den damaligen «gerechten Krieg» rechtfertigen, herrscht in Deutschland immer noch der gegenteilige Impuls vor. Nach zwei verursachten Weltkriegen hat sich in Deutschland eine «Ohne-Mich-Mentalität» etabliert, wenn es um internationale Militäreinsätze geht, sagt der Berliner Politologe Herfried Münkler. «Da sind wir vielleicht nicht so ganz unähnlich zur Alpenrepublik, die dann neutral wurde.»
Nicht alle Staaten sind mit ihrer Kriegsvergangenheit im Reinen, selbst wenn sie damals zu den Siegermächten zählten. In Serbien etwa glaubt man immer noch, die Schuld am Attentat von Sarajevo abstreiten zu müssen. Obwohl das Land einen unglaublichen Blutzoll leistete und 28 Prozent seiner Bevölkerung verlor, wird des Sieges nur verschämt gedacht. Serbien habe den Krieg nämlich nicht gewollt, erläutert der Historiker Danilo Sarenac.
Besonders schwer tun sich Bulgarien und Ungarn. Der bulgarische Historiker Andrej Pantew beklagt, dass sein Land durch die unglückliche Kriegsbeteiligung auf der Seite der Mittelmächte «für immer ein Invalide» geblieben sei.
Ungarn wiederum hat zwei Drittel seines Territoriums wegen eines Konflikts verloren, in den es nur als Teil der Donaumonarchie «hineingeschlittert» sei, wie der Historiker Krisztian Ungvary erläutert. Heute versucht Budapest dieses historische Unrecht zum Missfallen seiner Nachbarn durch die Erteilung von Doppelstaatsbürgerschaften zu tilgen.
Das Trauma von Trianon hält so auch die Nationalmythen in den Nachbarländern am Leben, etwa in Rumänien, wo jegliche Autonomie Siebenbürgens abgelehnt wird.
In den Staaten, die auf dem Trümmerfeld der Donaumonarchie entstanden, bröckeln indes die Gründungsmythen der sich gegen die Unterdrückung durch die Habsburger erhebenden Nationen. So sagt etwa die slowenische Historikerin Petra Svoljsak, dass die Loyalität der Slowenen zur Monarchie «bis kurz vor dem Zusammenbruch stark gewesen» sei.
Ähnliches wissen Historiker aus Kroatien und der Slowakei zu berichten. Polen absolvierte erst nach dem Krieg einen «Schnellkurs in Sachen nationaler Identität», sagt der Krakauer Historiker Andrzej Chwalba. «Kaiser Franz Joseph erfreute sich auch bei polnischen Familien grosser Achtung.» Auch in Siebenbürgen gab es durchaus den Wunsch, Teil der Habsburger-Monarchie zu bleiben. «Wien war nicht das Problem, sondern Budapest», meint der rumänische Historiker Lucian Boia.
Selbst in Böhmen konnte von einer revolutionären Auflehnung gegen die Habsburger nicht die Rede sein. «Die Tschechen haben sich nicht wie Schwejk verhalten», rückt der Prager Militärhistoriker Zdenek Polcak das Bild vom unmotivierten tschechischen Soldaten zurecht.
Beim Gedenken an den Ersten Weltkrieg wird freilich weiterhin die nationsbildende «Legion 100» jener Soldaten, die an der Seite der Entente-Mächte kämpften, in den Vordergrund gerückt. Doch immer noch wird in Tschechien mit dem 28. Oktober 1918 jener Tag als Nationalfeiertag hochgehalten, an dem die Habsburger aus Prag vertrieben wurden.
Während die junge Nation Italien durch den gemeinsamen Kampf von Soldaten aus allen Landesteilen zusammenwuchs, war der Erste Weltkrieg für Belgien ein Spaltpilz. Die deutschen Besatzer schürten nämlich gezielt den Konflikt zwischen den damals dominierenden Frankophonen und den Flamen, indem sie letzteren mehr Rechte gaben. So stellte die deutsche «Flamenpolitik» die Weichen für die heutige politische Übermacht der flämischen Bevölkerung.
Selbst für die neutralen Staaten war der Erste Weltkrieg von eminenter Bedeutung. In der Schweiz wurde etwa der Zusammenhalt zwischen deutsch- und französischsprachigen Bürgern auf eine harte Probe gestellt. Integrierend wirkten dabei die nach 1917 «akut aufkommenden Überfremdungsängste», berichtet der Zürcher Historiker Jakob Tanner.
Schweden geriet durch die wirtschaftliche Not an den Rand einer Revolution, doch führten die Unruhen auch zur Bildung einer gemässigten Linken. Die spätere jahrzehntelange Hegemonie der Sozialdemokraten hat somit «einen Teil ihrer Wurzeln in der Krise von 1917», sagt der Historiker Peter Englund.
Die ungewöhnlichste Wende löste der Erste Weltkrieg freilich im Baltikum aus. Dort führte ausgerechnet die über das Kriegsende im Jahr 1918 fortgesetzte und von den Einheimischen abgelehnte deutsche Besatzung dazu, dass Estland, Lettland und Litauen die Unabhängigkeit von Russland erhielten.
Die Besatzung habe nämlich das Vordringen der Roten Armee im Baltikum verhindert, berichtet der estnische Politologe Andres Kasekamp. Und, was heute fast unglaublich scheint: Viele Letten kämpften damals aufseiten der russischen Bolschewiken gegen die Deutschen. (sda/apa)