In den frühen 1980er-Jahren machte ein neues tödliches Virus Schlagzeilen. Später wurde es unter dem Namen «Human Immunodeficiency Virus», kurz HIV, weltbekannt. Seit 1985 erfasst das Bundesamt für Statistik alle Infektionen in der Schweiz.
Die folgende Grafik zeigt, dass im Spitzenjahr 1986 in der Schweiz über 3'200 Neuinfizierte registriert wurden. In den letzten Jahren hat sich die Zahl bei etwas über 300 jährlich eingependelt. Die in der Grafik erwähnten Kapitel und Meilensteine werden in den folgenden Abschnitten ausführlich erläutert.
Die ältesten HIV-Sequenzen fand man in einer Blutprobe einer Person aus Léopoldville, der damaligen Hauptstadt von Belgisch-Kongo, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Die Blutprobe stammt aus dem Jahr 1959, eindeutig auf die Aids-Krankheit zurückführen konnte man sie allerdings erst dutzende Jahre später.
Inzwischen weiss man, dass die heute weltweit verbreitete Variante des HI-Virus um das Jahr 1920 von Schimpansen auf Menschen übertragen wurde, vermutlich durch Schnittwunden bei der Jagd.
Von Léopoldville (heute trägt die Stadt den Namen Kinshasa) aus verbreitete sich das Virus zuerst entlang des Eisenbahnnetzes. Ab den 1960er Jahren schwappte das HI-Virus vom westlichen Zentralafrika in die anderen Teile der Welt über.
In den USA werden einige ähnliche Fälle von jungen, homosexuellen Männern bekannt, die an einer «seltenen und oftmals schnell tödlichen Form von Krebs» erkrankt sind. Der Grund des Ausbruchs sei unbekannt, schreibt die «New York Times» in ihrer Ausgabe vom 3. Juli 1981. In den folgenden Tagen berichten diverse weitere Titel über die medizinischen Vorfälle.
Die US-Gesundheitsbehörde gibt erstmals bekannt, wie das Virus übertragen wird: Durch sexuellen Kontakt und Bluttransfusion. Entsprechende «Safer Sex»-Guidelines folgen.
Zeitgleich entdeckten zwei Forschergruppen das Virus, welches Aids verursacht. Dem Team um die französischen Wissenschaftler Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi gelingt es im Jahr 1984 erstmals, im Gewebe eines Aidspatienten einen Virus zu identifizieren.
Ein ähnliches Kunststück gelang kurze Zeit später auch dem US-Virologen Robert Gallo. Da ihm das Patent früher zugesprochen wurde, präsentierte er sich bald als Erstentdecker. Danach folgte ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen den beiden Forschergruppen, der die spektakuläre Forschungsleistung überschattete.
Im Jahr 2008 erhielten Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi – zur grossen Enttäuschung Gallos – den Nobelpreis für ihre Forschung. Sie gelten heute als Entdecker des HI-Virus.
Frauenschwarm und US-Schauspieler Rock Hudson gibt als einer der ersten Prominenten sein Coming Out und erzählt öffentlich von seiner Aids-Erkrankung.
In der damaligen Zeit ein Skandal: Die überwiegend ahnungslose heterosexuelle Weltöffentlichkeit erfuhr zum ersten Mal, dass Schwule nicht nur Tänzer, Schneider und Frisöre sind, sondern auch Männer wie du und ich.
Unter schwierigen Umständen kämpfte Rock Hudson für die Akzeptanz von Homosexuellen und HIV-Betroffenen – so wollte ihn beispielsweise keine amerikanische Fluggesellschaft mehr von Paris zurück in die USA transportieren. Kurz vor seinem Tod war er gezwungen, einen Rückflug für sich alleine zu chartern – für 250'000 Dollar. Hudsons Geschichte sorgte dafür, dass Aids in der Gesellschaft immer mehr zum Thema wurde.
Blutbanken und das Rote Kreuz beginnen 1985, das gespendete Blut auf HIV zu untersuchen. Blut von schwulen Spendern wird nicht mehr angenommen – eine Regelung, die bis vor zwei Jahren auch in der Schweiz Bestand hatte. Heute dürfen Schwule unter speziellen Bedingungen wieder Blut spenden.
Weltweit wird 1985 die Grenze von einer Million Infizierten geknackt. Das Bundesamt für Gesundheit beginnt Infizierte in der Schweiz statistisch zu erfassen, für das Jahr 1985 werden 2'800 Betroffene gezählt.
Begleitet von grosser medialen Aufmerksamkeit wird die Aids-Hilfe Schweiz gegründet. Die Organisation motiviert und befähigt Menschen in der Schweiz seither dazu, sich vor dem HI-Virus zu schützen und bereits Erkrankte nicht auszugrenzen.
Der Moderator Charles Clerc zieht sich während der Hauptausgabe der «Tagesschau» vor laufender Kamera ein Kondom über den Mittelfinger – und erregt damit internationale Aufmerksamkeit.
Im April 1987 schüttelt Prinzessin Diana die Hände von Aidskranken – ohne dabei Gummihandschuhe zu tragen. Mit dieser Geste menschlicher Nähe setzt sie ein Zeichen. Gleichzeitig versetzte sie die Öffentlichkeit in Panik: Eine deutsche Zeitung fragte sogar: «Wird sie jetzt sterben müssen?»
Der Schweizer Musiker Polo Hofer trägt mit seinem Song «Stop Aids (Dr Gummi Song)» seinen Teil zur Sensibilisierung von HIV bei.
Im gleichen Jahr wurde die erste Anti-Aids-Kampagne lanciert. Ihre Ziele waren der Gebrauch von Kondomen und mehr Solidarität für Betroffene.
Bei einer Routineuntersuchung wird Magic Johnson, Basketballstar der Los Angeles Lakers, positiv auf HIV getestet. Johnson versteht die Welt nicht mehr, wie in aller Welt konnte er HIV-positiv sein? Wie Johnson waren damals viele der Überzeugung, dass nur Schwule vom tödlichen Virus betroffen sein können. Die Krankheit hat den Weg in die heterosexuelle Welt gefunden.
Nach insgesamt drei Tests – alle mit dem selben Ergebnis – gibt er an einer emotionalen Pressekonferenz seinen (zumindest vorläufigen) Rücktritt als Profibasketballer bekannt.
Später gab Magic Johnson zu, sich bei einer seiner zahlreichen Affären angesteckt zu haben. Heute ist der inzwischen 60-Jährige noch immer als HIV-Botschafter unterwegs.
Seit mehreren Monaten gab es öffentliche Spekulationen über eine Aids-Erkrankung beim Queen-Sänger Freddie Mercury. Bei seinen Auftritten im September 1991 wirkte er bereits deutlich gekennzeichnet.
Am 23. November 1991 gab er in einem Statement bekannt, HIV-positiv zu sein. Nur einen Tag später starb er an einer Lungenentzündung.
Fast 10 Jahre, nachdem das HI-Virus isoliert wurde, publizieren Forscher erste Berichte über Behandlungsmöglichkeiten. Bis zur Einführung dieser Medikamente vergehen aber nochmals mehrere Jahre.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt die weltweite Zahl der am HI-Virus Erkrankten auf 20 Millionen.
Erstmals zeigt eine schweizweite Kampagne ein schwules Paar. Der Bundesrat wird daraufhin aufgefordert, unverzüglich eine Ethikkommission einzusetzen, welche die Themen und den Slogan der Kampagne prüft. Er lehnt ab.
Der grosse Durchbruch ist da: Bei der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver wird erstmals die «Kombinationstherapie» vorgestellt. Es gab zwar seit einigen Jahren erste Medikamente, aber erst die sogenannte antiretrovirale Therapie konnte die Vermehrung von HIV im Körper dauerhaft verhindern.
Innerhalb weniger Wochen schöpfen zehntausende Patienten Hoffnung und kriegen die Erkrankung in den Griff – viele von ihnen lagen bereits auf dem Sterbebett.
HIV-Positive können nun jeden Beruf ausüben, ihre Sexualität ausleben und auf natürliche Weise gesunde Kinder bekommen. Die Therapie ermöglicht Betroffenen ein komplett neues Leben – zumindest wenn sie in einem reichen Land leben, das ihnen Zugang zur Therapie ermöglicht.
Inzwischen schätzt die WHO die Anzahl Infizierter weltweit bereits auf 40 Millionen Menschen. Die Zahl der Betroffenen hat sich also in nur sieben Jahren verdoppelt.
Die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen publiziert eine aufsehenerregende Mitteilung: Mit der richtigen Therapie sind HIV-Positive nicht mehr ansteckend. Das «Swiss Statement» trägt massgebend zur Entkriminalisierung von HIV bei – weit über die Landesgrenzen aus.
«Das Wunder gegen Aids» wurde die Pille bei ihrer Präsentation genannt: Die Prä-Expositions-Prophylaxe, kurz PrEP, schützt genau so zuverlässig gegen HIV wie ein Kondom. Seit 2012 ist sie in den USA zugelassen, in der EU seit 2016. Eine offizielle Zulassung von PrEP in der Schweiz gibt es noch nicht, Schweizer Ärzte verschreiben es daher «off-label», also für einen anderen Gebrauch, als es die Gesundheitsbehörden zulassen.
PrEP bringt den grossen Vorteil, dass man selbst Verantwortung übernehmen kann und sich nicht mehr «nur» auf den Sexpartner verlassen muss. Allerdings schützt die Pille nicht gegen andere sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis oder Tripper.
Das Bundesamt für Gesundheit schätzt die Anzahl HIV-Positiver in der Schweiz auf knapp 17'000 Personen. Im Jahr 2012 waren es noch gut 15'000 Personen. Yann Hulmann vom BAG erklärt: «Die Zahl der Personen mit HIV-Infektion liegt 2018 höher als 2012, weil aufgrund der Therapie ihre Lebenserwartung steigt. Doch noch immer stecken sich hierzulande einige hundert Personen jährlich mit dem HI-Virus an.»
Weltweit liegt die Zahl der Menschen, die mit HIV leben, bei knapp 40 Millionen. Rund 770'000 Menschen sind im vergangenen Jahr an der Krankheit gestorben.
Diese interaktive Karte zeigt die Anzahl Neuinfektionen weltweit. Noch rund 1,7 Millionen Menschen sollen sich im vergangenen Jahr infiziert haben, die Zahl nahm in den letzten Jahren stetig ab.
Der Zürcher Medizinprofessor Jan Fehr gab sich gegenüber der NZZ am Sonntag zuversichtlich, dass die Schweiz im Jahr 2030 das erste Land weltweit sein könnte, in dem es keine Neuansteckungen mit HIV mehr gibt – dank PrEP.