Veganer. Die moralinsauren Spassbremsen, die nichts lieber tun, als in die Welt zu schreien, wie viel besser als alle anderen Menschen sie sind. Die sektenartigen Extremisten, die anderen Menschen vorschreiben wollen, was sie zu essen haben. Die wohlstandsverwahrlosten Wichtigtuer, die mit ihrem teuren Konsum-Lifestyle exhibitionistisch herumstolzieren.
Mit negativen Stereotypen über Veganerinnen und Veganer lassen sich Bücher füllen. Darum rollen die meisten von uns einfach mit den Augen (und knabbern genüsslich weiter an unserem Schnitzel oder unserer Bratwurst), wenn von Veganern die Rede ist. Doch was geschieht, wenn wir unsere negativen Vorstellungen über das Veganertum für einen Moment ausblenden und versuchen, die vegane Sicht auf die Dinge wohlwollend zu deuten?
Es offenbart sich, was wir vielleicht lieber nicht wahrhaben wollen: Es gibt durchaus gute Gründe, um auf tierische Produkte zu verzichten. Die Forschung zeigt, dass die stark negativen Einstellungen gegenüber Veganern zumindest teilweise nicht auf rationaler Kritik gründen, sondern vielmehr die Folge irrationaler psychologischer Abwehrreflexe sind.
Warum entscheidet sich jemand, vegan zu sein? Spontan fallen uns viele böswillige Gründe ein (die haben nicht alle Tassen im Schrank, usf.). Wenn man Veganerinnen und Veganer aber selber fragt, geben sie drei zentrale Motive an: Tierwohl, Umweltschutz und die persönliche Gesundheit.
Die meisten Menschen, egal, ob vegan oder nicht, denken intuitiv, dass Tierwohl wichtig und richtig ist – Tieren soll es grundsätzlich möglichst gut gehen. Diese intuitive moralische Haltung haben wir, weil wir davon ausgehen, dass Tiere nicht einfach dumpfe Objekte, sondern ganz ähnlich wie wir Menschen empfindungsfähige Lebewesen sind. Dieses moralische Bauchgefühl wird mittlerweile auch durch die Wissenschaft untermauert: Im Mindesten alle Wirbeltiere können angenehme, positive Zustände empfinden und damit so etwas wie Glück oder Wohlbefinden erleben.
Noch wichtiger ist aber die Kehrseite dieser Medaille: Empfindungsfähige Tiere können auch Schmerz und Leid erleben. Und genau hierin liegt der moralische Knackpunkt des Veganertums. Wenn die Tiere, die wir essen und sonstwie als Nutztiere nutzen, leiden können, und wir weltweit jedes Jahr mindestens 80 Milliarden Landtiere (Kühe, Schweine, Hühner, usf.) und mindestens 1000 Milliarden Fische züchten bzw. fangen sowie anschliessend töten, dann verursachen wir unvorstellbar viel Leid.
In Anbetracht dieses gigantischen moralischen Problems mögen wir uns der Illusion hingeben, dass die Tiere, deren Fleisch und Milch und Eier wir persönlich essen, bis zu ihrem sanften, «humanen» Tod ein glückliches Leben geführt haben. Die Realität ist aber eine andere. In den USA beispielsweise werden rund 99% aller landwirtschaftlichen Nutztiere in der Massentierhaltung gehalten. Das, was auf unserem Teller landet, ist so gut wie sicher immer mit Leid verbunden.
Dass Veganerinnen und Veganer das Ausmass an Leid, welches durch den Konsum von Fleisch und weiteren tierischen Produkten verursacht wird, abbauen wollen, ist nicht verrückt, sondern ein durchaus rationales moralisches Ziel. Veganer nehmen einfach ernst, was wir alle als Lippenbekenntnis behaupten: Empfindungsfähige Lebewesen sollen nicht leiden – vor allem nicht, wenn das Leid komplett unnötig und vermeidbar ist.
Ein zweiter wichtiger Beweggrund von Veganerinnen und Veganern ist Umweltschutz. Die heutige Tierwirtschaft ist global und findet weitgehend in industriellem Ausmass statt, wodurch ein gewisser negativer Einfluss auf die Umwelt kaum zu vermeiden ist. Der Umfang des Problems ist aber erstaunlich: Die Tierlandwirtschaft verursacht zwischen 8 und 18% des weltweiten CO2-Ausstosses – oder bis zu rund 50%, wenn Faktoren wie das durch die Atmung der gezüchteten Nutztiere verursachte CO2 mitgerechnet werden. Unabhängig von der bevorzugten Schätzung ist sich die Wissenschaft grundsätzlich einig, dass ein Verzicht auf Fleisch und sonstige tierische Produkte der wirksamste Weg für uns als Einzelpersonen ist, etwas gegen Klimawandel zu unternehmen. Wenn Veganer also meinen, sie würden durch ihren Verzicht etwas Gutes für die Umwelt tun, gibt ihnen die Wissenschaft recht.
Die dritte wichtige Triebfeder des Veganismus sind gesundheitliche Überlegungen. Viele Veganerinnen und Veganer glauben, dass die vegane Ernährungsweise gesundheitliche Vorteile mit sich bringe. Wenn es um Veganer und Gesundheit geht, kommen uns aber rasch Horrorbilder in den Sinn: Abgemagerte Schwächlinge, die sich nur von Früchten ernähren und massiv unterernährt sind. Die Forschung zeichnet ein differenzierteres Bild. Es gibt viel Evidenz, dass eine vegetarische oder vegane Ernährung nicht nur nicht ungesund ist, sondern auch klare gesundheitliche Vorteile haben kann.
So kommt eine grosse Übersichtsstudie von 2017 zum Schluss, dass vegetarische Ernährung das Risiko koronarer Herzkrankheit (-25%) und von Krebs (-8%) senkt (Der Effekt bei Krebs beträgt bei veganer Ernährung sogar -15%). Beim Verzicht auf tierische Produkte können aber in der Tat Mangelerscheinungen auftreten, etwa bei Vitamin B12 oder Kalzium. Vegetarier und Veganer müssen also ein wenig mehr Planungsarbeit in ihre Ernährung investieren, um langfristig gesund zu bleiben. Dann können sie aber durchaus mindestens so gesund wie Allesesser bleiben.
Der wohlwollende Blick auf die Motivation der Veganer zeigt also insgesamt, dass es durchaus gute, evidenzbasierte Gründe gibt, auf tierische Produkte zu verzichten: Leid wird reduziert, die Umwelt geschont und die Gesundheit gefördert. Warum finden wir Veganer dann so lästig und nervig? Es gibt wohl tatsächlich Individuen und Organisationen, die recht unsympathisch für die veganen Anliegen weibeln. Doch die weit verbreitete Veganer-Aversion hängt zumindest ein Stück weit auch mit der Psyche der Allesesser zusammen.
Die meisten Menschen finden, dass man Tieren keinen Schaden zufügen soll. Gleichzeitig essen die meisten Menschen Tiere. Dieser offenkundige moralische Widerspruch ist als Fleischparadoxon bekannt. Das Interessante an diesem Paradoxon ist, dass die meisten Menschen es gar nicht als solches wahrnehmen. Dass Milliarden von Tieren unter oftmals qualvollen Bedingungen gezüchtet und getötet werden, ist uns relativ egal. Wenn aber jemand einem Hund einen Fusstritt verpasst, sind wir empört. Wie kommt das? Allesesser weisen eine Reihe psychologischer und sozialer Schutzmechanismen auf, mit denen kognitive Dissonanzen wie das Fleischparadoxon getilgt werden. Diese Schutzmechanismen werden bisweilen als «Karnismus» beschrieben.
Karnismus umfasst in der Regel zwei Arten von Rechtfertigungsreflexen. Die meisten Allesesser verteidigen ihr Essverhalten mit Tradition (Menschen essen seit Jahrtausenden Fleisch), Identität (Fleisch gehört für mich einfach dazu) oder dem Leugnen des Problems (Tiere zu essen verursacht kein Leid). Ein Teil der Allesesser geht noch einen Schritt weiter und begründet Fleischkonsum mit der Unterlegenheit nicht-menschlicher Tiere (Tiere sind weniger intelligent als Menschen, also können wir mit ihnen machen, wie uns beliebt).
Zu solchen psychologischen Faktoren kommen auch noch soziale hinzu; etwa der Umstand, dass der Konsum von Tieren und tierischen Produkten eine Art soziales Ritual sein kann. Im Sommer beispielsweise zusammen mit Freunden ein paar Steaks, Burger und Cervelats auf den Grill zu werfen, gehört für viele Menschen einfach zum sozialen Habitus. Es geht nicht in erster Linie um das Grillfleisch, sondern um das soziale Miteinander.
Die Sozialpsychologin Melanie Joy fasst Karnismus in ihrem Buch «Why We Love Dogs, Eat Pigs, and Wear Cows» mit den drei Ns zusammen: Allesesser finden, dass Fleischverzehr normal, natürlich und notwendig sei. An diesen drei Ns zu rütteln, ist ausgesprochen schwierig, weil sie sehr tief verankert sind. Fleisch essen wir schliesslich, weil wir seit dem frühesten Kindesalter zu Fleischessern erzogen wurden und nicht, weil wir uns bedacht und aktiv im Erwachsenenalter dafür entschlossen haben. Überzeugungen, zu denen wir nicht durch aktives, rationales Denken gelangt sind, lassen sich nur schwer durch aktives, rationales Denken ändern.
In der Diskussion rund um Veganertum ist oft das Argument zu hören, dass die Veganer einfach zu weit gehen. Das Ziel müsse gar nicht sein, komplett auf tierische Produkte zu verzichten. Stattdessen sollten wir einfach etwas weniger und dafür bewusster Fleisch und Milch und Eier konsumieren. Dieses Argument hat etwas Beruhigendes (wir machen moralisch nichts kategorisch falsch und können einfach ein bisschen herunterschrauben), aber es ist nur bedingt sinnvoll.
Angenommen, wir wollen den Fleischkonsum in der Gesellschaft um 20% senken. Dieses Ziel kann beispielsweise erreicht werden, indem wir alle 20% weniger Fleisch essen, oder auch, indem 20% der Bevölkerung komplett auf Fleisch verzichtet. Aber wenn wir zum Schluss kommen, dass eine Reduktion des Problems um 20% wünschenswert ist, gibt es keinen rationalen Grund, warum nicht auch 25% ein Ziel sein sollten. Oder 50%. Oder eben 100%.
Angesichts der weltweiten Trends hin zu stark steigendem Konsum von Fleisch, Milch und Eiern wird die Frage des Veganertums in Zukunft noch wichtiger und drückender. Ein Stück weit dürften vegane Startups wie Impossible Foods und Beyond Meat mit ihren Hightech-Fleischalternativen helfen, Fleischkonsum zu reduzieren. Doch den Grossteil der Arbeit müssen wir selber machen. Das, was auf unserem Teller landet, hat gewichtige moralische, ökologische und gesundheitliche Konsequenzen. Mit diesen Konsequenzen müssen wir uns aktiv und explizit auseinandersetzen – auch wenn uns dabei der Appetit vergeht.
Meine eigenen Erfahrungen: Mit Fleisch essen als Norm, aufgewachsen. Vegetarier & Veganer wurden immer als etwas speziell/komisch und extrem angesehen. Nach der ersten eingehenden Befassung mit dem Thema der Massentierhaltung & deren Folgen, konnte ich mich zumindest durchringen, weniger Fleisch zu essen. Der Umstieg auf fleischlose Ernährung wurde dann durch eine zeitgleiche allgemeine Ernährungsumstellung etwas leichter. Um ganz auf tierische Produkte zu verzichten war ich lange zu faul/bequem & habe mich erst vor kurzem dazu überwinden können.