«Voraussagen soll man unbedingt vermeiden, besonders solche über die Zukunft.» Für die schnelllebige Welt der Börse mit ihren nervösen Kursschwankungen dürfte dieses schöne Wort, das meist dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zugeschrieben wird, besonders gut zutreffen.
Zugleich ist die Börse aber auch ein Ort, der von der Zukunft lebt – der Kurs der Wertpapiere spiegelt die Erwartungen an die Zukunft. So ist es kein Wunder, dass die Zunft der Ökonomen sich kaum weniger mit Prognosen abgibt als jene der Meteorologen. Und dabei mitunter kräftig danebenlangt. Hier sind 13 Beispiele für krasse Fehlprognosen, die Börsengeschichte schrieben.
Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman nannte ihn «den grössten Ökonomen, den Amerika je hervorgebracht hat». In der Tat, Irving Fisher, der an der Elite-Uni Yale lehrte, war eine Koryphäe, nach der mehrere Begriffe in der Volkswirtschaftslehre benannt wurden – etwa der Fisher-Effekt oder das Fisher-Separationstheorem. Neben seinen bahnbrechenden Arbeiten auf dem Feld der Zinstheorie publizierte er zahlreiche Bücher und Zeitungsartikel und war deshalb einem breiten Publikum bekannt.
Ein einziger Satz reichte aus, um dieses ganze Renommee nachhaltig zu beschädigen. «Es sieht so aus, als ob die Aktien ein dauerhaftes Hochplateau erreicht haben», verkündete Fisher im Oktober 1929. Was wenige Tage später folgte, war der folgenreichste Börsencrash der Geschichte, der «Schwarze Donnerstag», der in die Weltwirtschaftskrise der Dreissigerjahre mündete. Auch nach dem Crash, bei dem er sein Vermögen verlor, blieb Fisher noch monatelang der Meinung, die Erholung stehe unmittelbar bevor. Doch der Dow Jones erreichte erst 1932 den Tiefpunkt. Fishers Ruf als Star-Ökonom erholte sich nie mehr.
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Und nun zurück in die Vergangenheit ...
1987 kletterte ein Buch des Ökonomen Ravi Batra an die Spitze der Bestseller-Liste der «New York Times». «The Great Depression of 1990» war der Titel des Werks und zugleich dessen hauptsächliche These: 1990 werde eine massive Wirtschaftskrise die USA treffen. Batra wurde dank dieses Buchs – das etwa ein halbes Jahr vor dem Börsenkrach im Oktober 1987 erschien – und dessen Nachfolger «Surviving the Great Depression of 1990» zu einem der bestverdienenden Ökonomen aller Zeiten. Fachkollegen waren hingegen kritischer als das Lesepublikum: Milton Friedman sagte, er würde das Buch nicht einmal mit einem drei Meter langen Stock berühren.
Die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt mehrere Krisen, aber keine im Jahr 1990. Batras Vorhersage erwies sich als komplett falsch; die amerikanische Wirtschaft wuchs in den Neunzigern stark – und die Börse legte im Jahresdurchschnitt um 18 Prozent zu. Batra erhielt den satirischen Ig-Nobelpreis für sein Werk. Die Begründung: Er habe durch den Verkauf seiner Bücher die Krise im Alleingang verhindert.
1999 publizierten der Journalist James Glassman und der Ökonom Kevin Hassett ein Buch unter dem verheissungsvollen Titel «Dow 36,000: The New Strategy for Profiting From the Coming Rise in the Stock Market». Darin sagten die beiden voraus, der Dow-Jones-Index – der damals bei knapp 11'000 stand – werde sich in den nächsten Jahren verdreifachen. Doch stattdessen platzte die Dotcom-Blase und der Dow Jones sackte in den Keller. Immerhin: Heute, zwanzig Jahre nach der Prognose, steht er bei knapp 27'800 – allmählich gelangt die damals anvisierte Marke in Sichtweite. Auf Glassman und Hassett könnte also das Bonmot zutreffen, wonach es ununterscheidbar ist, ob jemand seiner Zeit sehr weit voraus ist oder einfach komplett falsch liegt.
Der erfolgreiche Hedge-Fund-Manager Whitney Tilson sagte das Platzen der Dotcom-Blase und der Immobilien-Blase korrekt voraus. Doch 2004 warnte er davor, in Google-Aktien zu investieren; der Internet-Gigant werde Investoren «in hohem Masse enttäuschen». Kein guter Rat, darf man heute getrost dazu sagen. Auch nach 2010 setzte Tilson konsequent auf fallende Kurse bei den Techfirmen – mit der Folge, dass er seinen Hedge Fund 2017 auflösen musste.
David Lereah war Chef-Ökonom der Nationalen Immobilienmakler-Vereinigung in den USA, als er im Februar 2006 ein Buch veröffentlichte, das den beruhigenden Titel trug «Why the Real Estate Boom Will Not Bust-And How You Can Profit from It» («Warum der Immobilien-Boom nicht zusammensacken wird – und wie Sie davon profitieren können»). Man sollte daher wohl die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass seine optimistische Sicht auf die Zukunft des Immobilienmarktes – die er auch in Interviews und im Fernsehen verbreitete – von seiner Funktion beeinflusst war.
Noch im Januar 2007, als die Immobilienpreise bereits kräftig auf Talfahrt waren, versicherte Lereah: «Der stete Aufschwung bei den Hausverkäufen wird die Preise stützen, trotz allen wilden Prognosen von Wissenschaftlern, Wall-Street-Analysten und anderen in den Medien.» Seine Prognose kollidierte Mitte 2007 mit der Realität, als die Immobilien-Blase platzte. Daraus entwickelte sich dann die globale Finanzkrise, die bis 2009 Wertpapierverluste in der Höhe von schätzungsweise vier Billionen Dollar verursachte.
Von 1987 bis 2006 war Alan Greenspan Vorsitzender der «Fed», der amerikanischen Zentralbank, und erwarb sich in dieser Zeit den Status einer Legende. «Maestro», «Mister Dollar» oder schlicht «das Orakel» nannte man ihn ehrfürchtig; Bewunderer nannten ihn «den grössten Zentralbanker, der je gelebt hat». Zu recht, wie es schien – Greenspans absichtlich kryptisch formulierte Äusserungen schienen die Aktienmärkte sicher um sämtliche Klippen zu steuern.
Nach seinem Rücktritt veröffentlichte Greespan seine Memoiren «The Age of Turbulence: Adventures in a New World» («Das Zeitalter der Turbulenzen: Abenteuer in einer neuen Welt»). Darin murmelte er nicht unverständlich herum, sondern schrieb mit ungewöhnlicher Klarheit, die Wirtschaft steuere aufgrund des erwarteten Inflationsdrucks auf zweistellige Zinssätze zu. Die Fed werde daher gezwungen sein, den Leitzins drastisch zu erhöhen, um das Inflationsziel von zwei Prozent einzuhalten. Ein Jahr später befand sich der Leitzins in historischen Niederungen und erreichte kurz danach die Untergrenze von null Prozent.
Abby Cohen, bis 2008 einflussreiche Chefstrategin von Goldman Sachs, galt in ihren Voraussagen als «bullish» – sie schätzte die Entwicklung der Börsenkurse in aller Regel optimistisch ein. In den 90er Jahren gereichte ihr dies zum Vorteil, da sie den Bullenmarkt dieser Dekade vorausgesagt hatte. Kein Wunder, kürte das Fachblatt «Institutional Investor» die «Prophetin der Wall Street» 1998 und 1999 zur Top-Strategin. In der folgenden Dekade, als sich der Börsenhimmel im Gefolge der Dotcom-Krise kräftig verdüsterte, litt der Ruf der mittlerweile als «Perma-Bull» apostrophierten Ökonomin.
Und dann kam die Finanzkrise, die Cohen nicht voraussah – wie übrigens die meisten Analysten. Doch Cohen gab im Dezember 2007 von allen bedeutenden Wall-Street-Auguren die optimistischste Prognose für das folgende Jahr ab. Sie sah den Standard & Poor’s 500 (ein Aktienindex von 500 der grössten börsennotierten US-Firmen) um 14 Prozent auf die Marke von 1675 Punkten klettern. Tatsächlich aber fiel er bis zum November auf 741 Punkte – 56 Prozent unter Cohens Vorhersage. Schon im März 2008 beförderte Goldman Sachs sie weg und ersetzte sie mit David Kostin.
Auch Greenspans Nachfolger als Fed-Chef, Ben Bernanke, unterschätzte die verheerende Wucht der Finanzkrise. Im März 2007, als die Häuserpreise bereits ein Jahr lang gefallen waren und sich die Anzeichen für das Platzen der Immobilien-Blase häuften, erklärte Bernanke vor dem Kongress, dass die Probleme im Subprime-Markt wahrscheinlich eingedämmt werden könnten. Im Mai doppelte er nach: «Wir erwarten nicht, dass die Entwicklung am Subprime-Markt nennenswerte Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft oder das Finanzsystem haben wird.»
Sie hatte aber Auswirkungen, wie wir heute wissen, und zwar fatale. Im August 2007 platzte die Blase, gut ein Jahr später brach die Grossbank Lehman Brothers zusammen und aus der Finanzkrise wurde eine weltweite Rezession – die Bernanke ebenfalls lange nicht kommen sah. Doch im weiteren Verlauf reagierte «Helikopter-Ben» – diesen Spitznamen verdankte er der Metapher, bei einer drohenden Deflation Geld per Helikopter abwerfen zu lassen – durchaus angemessen auf die Krise, indem er die Geldschleusen öffnete und dadurch bedrohte Unternehmen rettete.
Joseph Cassano lernte sein Metier von der Pike auf. Er begann als einfacher Angestellter und arbeitete sich zum Chef der AIG Financial Products Corporation in London hoch, die er von 2002 bis 2008 leitete. Die American International Group (AIG) ist einer der grössten börsennotierten Versicherungskonzerne der Welt. Cassano scheffelte viel Geld in London – für seinen Arbeitgeber, aber auch für sich selbst. Im August 2007 verkündete Cassano selbstbewusst: «Es ist schwierig für uns – und das, ohne leichtfertig zu sein –, innerhalb eines vernünftigen Rahmens überhaupt ein Szenario zu sehen, in dem wir bei einer dieser Transaktionen 1 Dollar verlieren könnten.» Weniger verschachtelt ausgedrückt: AIG wird bei den Transaktionen ihrer Financial Products Unit kein Geld verlieren.
Im gleichen Jahr verbuchte AIG einen Verlust von 99,3 Milliarden Dollar. Allein der Verlust im vierten Quartal war der bisher höchste Quartalsverlust einer Firma in der Wirtschaftsgeschichte. Der Konzern musste vom Steuerzahler gerettet werden. Cassano wurde deswegen wenig schmeichelhaft «Patient 0 der globalen ökonomischen Kernschmelze» genannt. Er verlor seinen Job – und erhielt dennoch bis zum Oktober 2008 weiterhin eine Million pro Monat.
Der amerikanische Ökonom Peter Schiff verdankt seinen Ruhm vornehmlich dem Umstand, dass er schon im Dezember 2006 das Platzen der Immobilien-Blase voraussagte. Allerdings sagt Schiff, Vorstandsvorsitzender der US-Investmentfirma Euro Pacific Capital, eigentlich kaum etwas anderes voraus als Wirtschaftskatastrophen. So prognostizierte er 2010 in einem Video, die von der Fed betriebene monetäre Politik des Quantitative Easing werde zu einer Hyperinflation führen und schliesslich den Dollar zerstören.
Nichts davon ist bisher eingetreten; die durchschnittliche Inflationsrate blieb nach dem Beginn des Quantitative Easing bei 1,68 Prozent; deutlich weniger als das von der Fed angestrebte Ziel von 2 Prozent. Dennoch verkündet Schiff, der als Ökonom der Österreichischen Schule anhängt, weiterhin unermüdlich die drohende Hyperinflation.
Die bekannte Analystin Meredith Whitney warnte 2007 vor Problemen der Investmentbank Citigroup – kurz darauf musste deren CEO zurücktreten. Aufgrund dieser Vorgeschichte erhielt eine düstere Voraussage, die sie im Dezember 2010 in einer Fernsehsendung machte, entsprechend Gewicht: Whitney sagte, dutzende von amerikanischen Gemeinwesen – Gemeinden, Städte und Counties – würden innerhalb der nächsten zwölf Monate «signifikante» Zahlungsausfälle bei ihren Anleihen («municipal bonds») erleben. Dies werde zu Verlusten in der Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar führen. Die Prognose führte zu einem zeitweiligen Beben auf dem Markt, doch ansonsten traf nichts von dem ein, was sie vorhergesagt hatte. Kurze Zeit nach dem verheerenden Statement musste sie ihren Hedge Fund schliessen.
Er ist einer der bekanntesten Financiers der Welt, setzt sein Milliardenvermögen für philantropische Zwecke ein und ist eine bevorzugte Zielscheibe neurechter Verschwörungstheoretiker: George Soros. Der ungarischstämmige Investor wurde 1992 berühmt, als er gegen das britische Pfund spekulierte und bei der dadurch bewirkten Abwertung der britischen Währung Milliarden einstrich. Der Coup trug ihm das Epithet «The man who broke the Bank of England» («Der Mann, der die Bank of England knackte») ein.
Im Frühjahr 2011 warnte Soros, die Inflation in China sei «einigermassen ausser Kontrolle» und es bestehe die Gefahr einer Spirale der Geldentwertung. Doch nichts dergleichen tat sich – die Inflation in der Volksrepublik erreichte nach einem Tiefstand 2009 gerade etwa Mitte 2011 ein Zwischenhoch von über fünf Prozent, doch danach ging sie zurück und hat diese Marke seither nicht mehr erreicht.
Dass Paul Krugman und Donald Trump das Heu nicht auf derselben Bühne haben, versteht sich eigentlich von selbst. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger greift den irrlichternden US-Präsidenten, dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen seinen eigenen diametral zuwiderlaufen, regelmässig in seiner Kolumne in der «New York Times» an.
Vermutlich war es diese Animosität, die Krugman unmittelbar nach dem Wahlsieg Trumps im November 2016 dazu verleitete, eine gewagte Prognose abzugeben: Es sehe nun definitiv nach Trump aus, schrieb er in seiner Kolumne, und die Märkte befänden sich im freien Fall. «Wenn die Frage lautet, wann die Märkte sich erholen werden, ist eine erste Antwort: niemals», unkte der Star-Ökonom. Der wirtschaftliche Effekt einer Trump-Präsidentschaft werde vermutlich schlimm und weitreichend genug sein, um die Welt in eine Rezession zu stürzen. Krugman korrigierte seine Vorhersage zwar später, doch Trump verlieh ihm dafür 2018 dennoch einen sogenannten «Fake News Award».
Er lag mit der Prognose zu einer Depression daneben, aber die Weltwirtschaft Anfang der 90er war alles andere als rosig.