Ihre Kandidatur sei «alles andere als trivial, weder für das Land, noch für die Partei, noch für sie selbst», erklärte Angela Merkel, als sie am Sonntag verkündete, zum vierten Mal für das Amt der Bundeskanzlerin anzutreten. Das kann man mit Fug und Recht als die Untertreibung des Jahres bezeichnen. Nach Brexit, Trump-Triumph und dem Comeback eines bösartigen Nationalismus ist die Kanzlerin unverhofft zum Fels in der rechtspopulistischen Brandung geworden.
Dabei ist die 62-jährige Merkel eine Anti-Charismatikerin. Unaufgeregt und pragmatisch, die Hände zu ihrem Markenzeichen, dem Rhombus gefaltet, strahlt sie Ruhe in einer sehr unruhigen Zeit aus. Von Alt-Kanzler Helmuth Kohl einst als «mein Mädchen» betitelt, ist sie zur Staatsfrau gereift, die von niemandem mehr unterschätzt wird.
Das hat gute Gründe: Merkel hat nicht nur ihren Ziehvater Kohl kalt gestellt, sie hat danach auch die CDU-Kronprinzen der Reihe nach abserviert und den regierenden Kanzler Gerhard Schröder aus dem Amt bugsiert.
Inzwischen ist sie die unbestrittene starke Frau in Europa. Grossbritannien hat sich mit dem Brexit ins Abseits manövriert und ist als Bündnispartner nicht mehr ernst zu nehmen. Selbst die «Financial Times» bezeichnet den britischen Aussenminister Boris Johnson als «uneinschätzbar dumm».
Der traditionelle EU-Partner Frankreich ist mit sich selbst beschäftigt und hat mit François Hollande einen Präsidenten, dessen Zustimmungsrate sich mittlerweile im einstelligen Prozentbereich bewegt. Italiens Premierminister Matteo Renzi kämpft ums Überleben, und in Spanien verfügt Mariano Rajoy über keine Mehrheit im Parlament.
In Holland hat der Rechtsextreme Geert Wilder beste Chancen, die nächsten Wahlen zu gewinnen. In Österreich könnte der rechtsnationale Norbert Hofer zum Präsidenten gekürt werden. Die ehemaligen Oststaaten werden derweil fast durchwegs von windigen Populisten regiert. In diesem europäischen «Fähnlein der Beklagenswerten» bleibt einzig Merkel als glaubwürdige Kontrahentin von Trump, Putin und Erdogan.
Dabei ist Merkel keineswegs frei von Fehl und Tadel. Die Eurokrise hat sie ökonomisch auf die denkbar schlechteste Art gehandhabt und Europa mit ihrer unsäglichen Austeritätspolitik in eine wirtschaftliche Misere gestürzt.
Ob die Physikerin Merkel dabei die Grundregeln der Ökonomie nicht beherrscht oder aus politischen Gründen auf die Sparonkels in den eigenen Reihen Rücksicht nehmen muss, ist ungewiss. Tatsache bleibt, dass die Eurokrise weiter schwelt und zur Gefahr für die Einheit Europas geworden ist.
Aussenpolitisch hingegen ist Merkel zur Lichtgestalt geworden. Sie mag in der Flüchtlingsfrage teilweise ungeschickt kommuniziert haben, aber ihr Einsatz für Menschlichkeit war mutig und richtig. Dass ausgerechnet sie, die für ihre sorgfältige Politik der kleinen Schritte bekannt ist, sich kompromisslos für ein humanitäres Ideal einsetzt, hätte ihr niemand zugetraut.
Dabei hat Merkel gerade in der Aussenpolitik schlechte Karten. Deutschland befindet sich in einer misslichen Lage: Es ist wirtschaftlich stark und militärisch schwach. Angesichts der Nazi-Vergangenheit lässt sich dies schwer ändern. «Man kann nicht sagen: ‹Macht Deutschland wieder gross›», stellt der ehemalige Aussenminister Joschka Fischer nüchtern fest. Deutschland wird daher der reiche Onkel bleiben, der von allem um Geld angegangen wird.
Das hindert Merkel nicht daran, auch mit Donald Trump Klartext zu reden. Während sich andere Staatsoberhäupter beim Gratulations-Telefonat in nichtssagende Belanglosigkeiten flüchteten, erklärte Merkel unmissverständlich: «Deutschland und die USA sind durch gemeinsame Werte verbunden: Demokratie, Freiheit, Respekt für den Rechtsstaat und die Würde der Menschen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung und politischen Ansichten.» Berlin wolle auf der «Basis dieser Werte» mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten.
Ob Merkel diese Ziele auch umsetzen kann, ist ungewiss. Deutschland ist Exportweltmeister und anfällig auf Handelskriege. Mit einem Donald Trump kann ein neuer Protektionismus nicht ausgeschlossen werden. Zudem stellt der neu gewählte US-Präsident auch die NATO in Frage, eine mittlere Katastrophe für den militärischen Zwerg Deutschland.
Auch innenpolitisch dürfte die Kanzlerwahl alles andere als ein Spaziergang werden. Der Trump-Triumph hat der rot-braunen Front von AfD über Pegida bis zu den Identitären gewaltig Auftrieb verliehen. Für diese Kreise ist die Kanzlerin – wie Hillary Clinton in den USA – die Hassfigur und Zielscheibe übler Angriffe geworden. Wer nach wie vor an liberale Werte und die Aufklärung glaubt, für die ist Angela Merkel deshalb geworden, was die Angelsachsen «the last best hope» nennen.