Eine meiner Cousinen lebte lange in Brooklyn. In den Achtzigerjahren hätte sie für rund 10’000 Dollar das Haus kaufen können, in dem sie zur Miete wohnte. Es lag gegenüber einem Crack-House in einer Gegend mit hoher Kriminalität. Kein anständiger Mensch wollte sich damals dort blicken lassen.
Als ehemaliges Hippie-Mädchen ist meine Cousine an materiellen Dingen wenig interessiert. Weil sie Pferde liebt, war es ihr wichtig, dass sie im nahen Prospect Park als Parkwächterin arbeiten konnte. Sie hatte keine Lust, Hausbesitzerin zu werden. Heute ist das Haus im inzwischen mega-schicken Quartier zehn Millionen Dollar wert. Meine Cousine kümmert dies kaum. Sie ist zurück an ihren Geburtsort gezogen, nach Ames, einer kleinen Universitätsstadt im Bundesstaat Iowa.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren drohte New York in Dreck und Kriminalität zu versinken. Die Stadt war pleite und beinahe unregierbar geworden. Dann geschah, was Richard Florida die Entstehung der «kreativen Klasse» nennt. Junge Menschen kehrten in die Stadt zurück, fanden in alten Fabrikhallen günstige Büros vor, trafen sich in Bars und Clubs. Die Kriminalität verschwand. New York wurde wieder angesagt und erlebte einen Boom.
Nach wie vor ist New York die Trend-Stadt schlechthin. Nicht von ungefähr sang Frank Sinatra einst: «Wenn du es dort schaffst, dann schaffst du es überall.» Oft kopieren andere Städte das Schicksal New Yorks, wenn auch in abgeschwächter Form. Mit Verzögerung und natürlich weniger ausgeprägt machte beispielsweise auch Zürich die Wandlung von der drogengeplagten Stadt – Stichwort Platzspitz – zur Boomtown für die kreative Klasse mit.
Keine Stadt hat das Coronavirus härter getroffen als New York. Das ist kein Zufall. «Mehr als andere grosse Städte ist New York der Inbegriff von urbanen Eigenschaften, welche das Virus in Gefahren verwandelt hat – hohe Bevölkerungsdichte, extrem hohe Lebenskosten, Abhängigkeit von Shops, Kultur und Tourismus und überfüllten öffentlichen Transportmitteln», stellt die «Financial Times» fest.
9/11 und die Finanzkrise hat New York weggesteckt. Ob die Stadt dies auch mit der Coronakrise tun wird, ist noch keineswegs sicher. «Sollte es je einen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt gegeben haben, dann ist er da», erklärt Bürgermeister Bill de Blasio. «Wir müssen alles hinterfragen und abklären, was funktioniert, und was nicht.»
Eine rasche Lösung wird es kaum geben. Das Virus beeinträchtig nicht nur das soziale und das kulturelle Leben der New Yorker, es trifft auch die wirtschaftliche Basis der kreativen Klasse. Künstler, Grafiker, Musiker und Szenenbeizer leiden speziell unter dem schlagartigen Lockdown. Sie sind meist selbstständig und schlecht abgesichert.
Homeoffice und Videokonferenzen werden vielleicht teure Büros überflüssig machen. Kommt dazu, dass viele Menschen nun die chronisch überfüllten Wagen der Untergrundbahn meiden werden, auch wenn sie nun täglich desinfiziert werden.
Die Reichen haben sich wie einst der Adel zu Zeiten der Pest auf ihre Zweitsitze zurückgezogen, sei es in Aspen oder in Palm Beach. Bis es einen zuverlässigen Impfstoff gibt, werden sie kaum zurückkehren, und das kann noch dauern. «Es wird definitiv zu einer Stadtflucht kommen», sagt der Immobilienunternehmer Winston Fisher.
Wegen seiner Lage ist New York extrem verdichtet. Doch Verdichtung ist angesichts der wachsenden Bevölkerung das Gebot der Stunde. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt inzwischen in Städten. Dieser Anteil wird noch wachsen. So erklärt der Soziologe Richard Sennett im «Guardian»: «Aus guten Gründen versuchen wir derzeit, die Verdichtung zu reduzieren. Aber grundsätzlich ist Verdichtung eine gute Sache. Verdichtete Städte sind energieeffizienter. Langfristig steuern wir daher auf einen Konflikt zwischen Gesundheit und Umwelt zu.»
Dieser Konflikt manifestiert sich idealtypisch in New York. Der «big apple» ist so eine Art Versuchskaninchen für alle Grossstädte dieser Welt. Auch ein Hoffnungsträger. Gerade weil New York so hart von der Coronakrise getroffen worden ist, werden dort möglicherweise auch Techniken entwickelt, die uns helfen, künftig mit Epidemien besser umgehen zu können.
Langfristig kann der Rückzug ins Homeoffice und aufs Land keine Lösung sein. Die Verkehrsprobleme würden unlösbar, die Zersiedlung unerträglich. Das Coronavirus ist so gesehen auch ein Weckruf. «Die Stadtbewohner entdecken einen Wunsch, den sie bisher gar nicht realisiert haben», sagt Richard Sennett. «Den Wunsch nach dem Kontakt mit Menschen, die anders sind als wir.»
War es nicht eher der Erfolg von Bürgermeister Rudy Giuliani mit Polizeichef William Bratton Polizeichef, Bratton der die so genannte Broken-Windows-Theory anwandte, die besagt, dass auch kleine Delikte streng verfolgt werden sollen, damit potentielle Straftäter sehen: Die Polizei gibt diese Strassen nicht auf, sogar jede lächerliche zerdepperte Fensterscheibe wird ersetzt, die Täter werden gesucht.
Genau! Nicht etwa das harte Durchgreifen der Polizei unter Rudi Giuliani ab 1993 brachten Sicherheit zurück, es waren junge Menschen mit ihrer Kreativität die den kreativen Dialog mit den Crackabhängigen und Gangs in den leeren Fabrikhallen suchten...
Man fragt sich, auf welchem Planeten diese Urbanisten, Stadtgeografen und Lefebvre-Anhänger leben?! 😳
Bin sehr gespannt, wie die USA in einem Jahr aussehen werden.