Sag das doch deinen Freunden!
Für
die einen ist Wladimir Putin ein genialer Leader, der mit dem Westen Schlitten
fährt. Für die anderen ein mittelmässig begabter Pokerspieler, der sich
verzockt hat. Wie sehen Sie das?
Mitchell A. Orenstein: Wir im Westen wissen nicht so genau, was Putin eigentlich
im Schild führt. Er versteht es sehr gut, uns im Ungewissen über seine
Absichten zu lassen. Wir können kaum nachvollziehen, wie und warum er seine
Entscheide fällt. Und anders als bei Angela Merkel ist die NSA auch nicht in
der Lage, sein iPhone abzuhören, da er keines benutzt.
Ist
diese Unberechenbarkeit Putins eine Stärke oder eine Schwäche?
Sie macht ihn auf jeden Fall faszinierend. Es
gelingt ihm sehr gut, uns alle auf Trab zu halten. Auch die Journalisten
rätseln beständig, was er als nächstes unternehmen wird. Es heisst, dass er
selbst den innersten Zirkel der russischen Machtelite erst im letzten Moment
informiert.
Gibt
es dafür Beispiele?
Man sagt, dass Putin seine Regierung erst im
allerletzten Moment über seine Absicht informiert hat, in der Krim
einzumarschieren.
Was
heisst das nun: Ist er ein Genie oder ein verantwortungsloser Spieler?
Schwer zu sagen. Was aber bestimmt zutrifft: Er
steht derzeit gewaltig unter Druck.
Ist
er deshalb auf die in unseren Augen lächerlichen Posen – nackt auf dem Pferd,
oder Sonnenbrillen à la James Bond – angewiesen?
Er inszeniert ganz bewusst einen Kult um seine
Person. Er hat aber auch eine klare Sicht auf die geopolitische Lage
entwickelt.
Nämlich?
Putin geht davon aus, dass die EU nicht
wirklich wichtig ist. Deshalb war er auch so überrascht, dass die EU sich
einigen konnte und Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Für ihn sind die
Nationalstaaten die entscheidenden Player. Er fühlt sich wohl, wenn er mit
Deutschen und Franzosen spricht, aber weniger wohl, wenn Amerikaner oder Briten
seine Gesprächspartner sind.
In
Russland scheint Putin sehr beliebt zu sein. Woher kommt der gewaltige Druck?
Die russische Wirtschaft steckt in einer
Rezession, und die ausländischen Investoren ziehen – wenn möglich – ihr Geld
ab. Nach wie vor verfügt Putin jedoch über militärische Macht. Deshalb befinden
wir uns auch in einer sehr gefährlichen Lage.
Woran
denken Sie?
Putin geht davon aus, dass die westlichen
Staatschefs Feiglinge sind. US-Präsident Barack Obama hält er für einen Schwächling. Auch von François Hollande und
David Cameron hält er wenig. Er glaubt daher, dass er jetzt ein offenes
Zeitfenster hat, um seine Ambitionen zu verwirklichen.
Wie
sehen diese Ambitionen aus?
Er will, dass Russland wieder eine Supermacht
und er an allen wichtigen geopolitischen Entscheidungen beteiligt ist,
beispielsweise im Sonderausschuss der UN. Und er ist überzeugt, dass er dieses
Ziel nicht erreichen kann, wenn Russland ein demokratischer Staat wird.
Spricht
er deshalb von einer «gelenkten Demokratie»?
Putin ist der Chef eines sehr korrupten
Regimes, das Demokratie und Menschenrechte mit den Füssen tritt. Deshalb wird
Russland in den entscheidenden internationalen Gremien wie G7 oder UN immer ein
Bürger zweiter Klasse sein. Wenn Russland Einfluss auf die internationale
Politik haben will, muss es auf seine Trumpfkarte setzen: auf militärische
Stärke.
Muss
der Westen also sich auf militärische Angriffe gefasst machen?
Putin setzt seine Armee im «near abroad» ein,
den umliegenden Staaten, also beispielsweise in Georgien oder der Ukraine.
Verfolgt
er dabei eine Strategie oder handelt er aus dem Bauch?
Er will eine Art «Sowjetunion light» wiederherstellen. Er versucht deshalb, Russland wirtschaftlich unabhängig zu
machen. Gleichzeitig hat er einen
eigentlichen Propagandafeldzug gegen den Westen angezettelt, der stark an die
Zeiten des Kalten Krieges erinnert.
Was
ausser militärischer Macht hat Russland zu bieten?
Putin setzt auf die gewaltigen
Rohstoffvorkommen im Energiebereich. Unter diesem Aspekt muss man auch die
Konflikte in der Ukraine und sein Eingreifen in Syrien verstehen. Es geht Putin
auch darum, seine starke Stellung im Energiemarkt zu verteidigen.
Können
Sie das erläutern?
Neue Technologien wie das Fracking haben den
Öl- und Gaspreis in den Keller rasseln lassen. Katar und andere Erdgasproduzenten
exportieren in immer grösserem Umfang Flüssiggas. Auch die EU entwickelt sich –
zumindest im Energiebereich – zu einer europäischen Gemeinschaft und hat ihre
Abhängigkeit von russischem Erdgas reduziert.
Wie
weit betrifft das Putin und Russland?
Putin will den Gasmarkt kontrollieren, nicht
nur den europäischen, sondern auch den asiatischen. Europa ist der wichtigste
Kunde von russischem Gas. Im Nahen Osten gibt es zwar ebenfalls sehr viel
Erdgas, aber Länder wie Katar können dieses Gas nur als Flüssiggas nach Europa
exportieren. In einer Pipeline wäre dies deutlich günstiger.
Warum
bauen Sie keine solche Pipeline?
Geopolitische Spannungen und die Sanktionen
gegen den Iran haben dies bisher verhindert. Das grösste Erdgasfeld der Welt liegt zu zwei Drittel in
Katar und einem Drittel im Iran. Wenn die Iraner nun beginnen wollen, Gas zu
exportieren, können sie dies nur über die Türkei tun. Das möchte Russland
verhindern, deshalb gibt es auch die Spannungen mit der Türkei.
Es
geht im Syrienkonflikt also nicht nur um Religion und Stammesfürsten, sondern
auch um handfeste wirtschaftliche Interessen.
Für Russland geht es in erster Linie um
wirtschaftliche Interessen. Man kann die Bedeutung des Erdgases für Putin gar
nicht überschätzen. Er will ein bedeutender Player im Nahen Osten sein und als
Vermittler zwischen dem Iran und dem Westen agieren. Das Letzte was Putin will,
ist eine Pipeline, die Erdgas aus Katar oder Saudi-Arabien transportiert und
die er nicht kontrollieren kann.
Was
hat das für Konsequenzen im Kampf gegen «IS»? Soll sich der Westen zusammen mit
Putin und dem syrischen Diktator Assad gegen die Terroristen verbünden oder
nicht?
Das ist eine wirklich heikle Frage. Letztlich stehen
die russischen und die westlichen Interessen komplett im Widerspruch
zueinander. Europa will billigeres Gas und mehrere Gaslieferanten, Russland will
einen möglichst hohen Gaspreis und ein Monopol. Und Russland möchte am liebsten auch den Untergang der EU
und der Nato. Der Westen hat somit
kein Interesse an einer Partnerschaft mit Russland. So gesehen ist die richtige
Politik wohl ein «Containment», also der Versuch, die Optionen von Russland so
beschränkt wie möglich zu behalten.
Derzeit
mehren sich jedoch die Stimmen im Westen, die sagen: Wir haben keine Wahl. Gegen
den «IS» müssen wir mit Putin zusammenspannen.
Ich sehe nicht wirklich ein, weshalb wir Putin
in diesem Kampf brauchen. Russland
greift ja nicht in erster Linie den «IS» an, sondern oppositionelle Gruppen
gegen Assad, die wir teilweise sogar unterstützen. Putin ist sehr geschickt darin, den Westen davon zu
überzeugen, dass er die gleichen Ziele verfolgt, obwohl genau das Gegenteil der
Fall ist.
Was
für Ziele verfolgen die USA im Syrienkonflikt?
Es gibt nach wie vor viele Menschen, die
glauben, die USA und Israel hätten den «IS» gegründet und würden ihn nach wie
vor unterstützen. Dieser Unsinn
wird von bestimmten muslimischen Kreisen, aber vor allem auch von Russland,
verbreitet. Diese Propaganda hat dazu geführt, dass die Einschätzung der Lage
sehr verwirrend geworden ist. Die USA bombardieren den «IS», wollen aber keine
Bodentruppen in das Krisengebiet schicken. Einige der arabischen Alliierten wollen
jedoch nicht wirklich gegen den «IS» vorgehen. Deshalb ist die Lage äusserst
verworren.
Was
schliessen Sie daraus?
Es ist offensichtlich, dass es den USA bisher
nicht gelungen ist, eine klare Führungsrolle zu übernehmen.
Sollten
die USA das tun?
Präsident Barack Obama befindet sich in einer
verzwickten Lage. Niemand will den Fehler des Irakkrieges wiederholen.
Andererseits zeigt die Entwicklung in Libyen, dass nur mit Bomben allein auch
nichts auszurichten ist.
Müsste
man also die Nase zuhalten und wieder auf Diktatoren wie Husni Mubarak in
Ägypten setzen?
Schwierig zu sagen. Derzeit kann der Westen
nicht viel mehr machen als zu versuchen, den Schaden zu begrenzen.
Die
USA haben mit dem Iran ein Abkommen geschlossen. Was hat das für Folgen?
Man könnte argumentieren, dass dieses Abkommen
den Syrienkonflikt verschärft hat.
Weshalb?
Der Iran ist der wichtigste Verbündete des
Assad-Regimes. Ohne die Unterstützung des Irans wäre dieses Regime längst
zusammengebrochen. Mit der
Aufhebung der Sanktionen kann der Iran diese Unterstützung noch verstärken.
Wird
der fallende Ölpreis Putin nicht irgendwann in die Knie zwingen?
Russland kann sein Öl und sein Gas relativ
billig fördern. Es wird auch bei tieferen Preisen noch Geld verdienen. Daher
wird dies nicht so rasch geschehen. Sollte der Preis eines Fasses Erdöl wie in
der 1980er Jahren auf zehn Dollar fallen, dann allerdings würde Russland wie
damals die Sowjetunion in ernste Schwierigkeiten geraten. Derzeit aber hat
Russland noch grosse Reserven.
Die
Hoffnung, dass wir dank des tiefen Ölpreises Putin loswerden, ist damit eine
Illusion?
Ja, zudem ist Putin im eigenen Land nach wie
vor sehr beliebt. Und er hat Ressourcen, von denen wir nichts wissen. Ich
persönlich kann mir gut vorstellen, dass Putin derzeit der reichste Mann der
Welt ist.
Putin
unterstützt rechtsnationalistische, ja teils offen faschistische Organisationen
in Europa. Was verspricht er sich davon?
Er möchte, dass die EU am liebsten zerstört
oder zumindest stark geschwächt wird.
Die Ultranationalisten sind seine natürlichen Verbündeten, und er hofft,
dass eine dieser Parteien sogar an die Macht kommen und das Ende der EU einleiten könnte. Die gleiche Taktik
hat er schon auf der Krim angewandt. Dort hat er ebenfalls ein paar sehr
bizarre Gruppierungen unterstützt – mit Erfolg.
Es
gibt auch die These, wonach Putin Deutschland und Russland als Gegenmacht zur
Dominanz der USA und Grossbritannien aufbaut. Was ist davon zu halten?
In Russland zirkuliert tatsächlich die Vision
einer eurasischen Grossmacht. Ich glaube jedoch, dass Putin kein Visionär oder
Ideologe ist. Er ist
opportunistisch und pragmatisch. Er will in erster Linie Russland stärken und
das bedeutet auch, die EU loswerden.
Wie
sieht Putins Europa aus?
Wie im 19. Jahrhundert nach dem Wiener
Kongress. In einem Europa der
Nationalstaaten könnte Russland die Rolle einer Ordnungsmacht und Putin die
Rolle von Fürst von Metternich spielen. Sein Problem dabei ist, dass Russland
im derzeitigen Zustand nicht in der Lage ist, demokratische Verhältnisse
einzuführen. Und die Demokratie ist nun mal heute der Goldstandard der
internationalen Politik.
Was
bedeutet das schliesslich? Ist Putin gefährlicher als der «IS»?
Der «IS» besitzt keine Atomwaffen und auch keine
chemischen oder biologischen Waffen. Russland hat diese Macht und einen Mann an
der Spitze, der unberechenbar ist. Das ist eine viel grössere Gefahr, selbst
wenn Sie davon ausgehen können, dass Putin nicht so verrückt ist wie die Leute
an der Spitze von «IS». Zudem können wir davon ausgehen, dass der Westen den «IS»
vernichten wird, sollte er zu einer substantiellen Bedrohung werden.