Am kommenden Wochenende finden in Frankreich Lokalwahlen statt. Der Sieger scheint bereits festzustehen: Der rechtsradikale Front National (FN) soll gemäss Umfragen über 30 Prozent der Stimmen erhalten und damit die stärkste Partei Frankreichs werden. Bereits in den Europawahlen vom vergangenen Mai hat jeder vierte Franzose für den FN gestimmt.
Der FN ist keine der vielen Protestparteien, die seit der Eurokrise wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden schiessen. Gegründet wurde der FN schon 1972 von Jean-Marie le Pen, einem archetypischen Wutbürger: Er ist verbittert über den Niedergang der ehemaligen Grande Nation, griesgrämig und offen antisemitisch. Die Gaskammern der Nazis bezeichnete le Pen einst als «Detail der Geschichte».
Vater le Pen erzielte zwar bei den Präsidentschaftswahlen 2002 einen Achtungserfolg. Er schlug im ersten Wahlgang den linken Kandidaten Lionel Jospin, hatte aber danach gegen den bürgerlichen Jacques Chirac nicht den Hauch einer Chance. Unter ihm blieb der FN eine Protestpartei, die nicht über ihren rechtsradikalen Sympathisantenkreis herauskam, will heissen: Es war eine Partei von verbitterten, ewig gestrigen, alten Männern.
Unter Marine le Pen hat sich der FN gewandelt und ist auch für Junge und Frauen interessant geworden. Die 46-jährige Tochter des Gründers ist von ganz anderem Kaliber als ihr Vater: Sie ist eine Frohnatur, schlagfertig, witzig und kommt beim Stimmvolk hervorragend an.
Kaum hatte sie beim FN das Szepter übernommen, stellte sie zwei Dinge klar: Erstens, dass sie und nicht mehr ihr Vater das Sagen hat und zweitens, dass ab sofort Schluss sei mit Antisemitismus. Den Holocaust bezeichnete sie als «Höhepunkt der Barbarei», und die paar Unbelehrbaren, die das immer noch nicht begreifen wollten, wurden aus der Partei entfernt.
Ist der FN unter Marine le Pen also weichgespült worden, eine Art französische Antwort auf die SVP? Weit gefehlt. Der FN ist sozialer und konsequenter als der neoliberale Blocher. Am meisten Zulauf erhält der FN heute von enttäuschten linken Wählern, von den Verlierern der Globalisierung in den Industriestädten im Norden Frankreichs. Ihnen verspricht die Partei Schutz vor billigen Arbeitskräften und höhere Löhne. Zu diesem Zweck will sie die französische Wirtschaft vor der globalen Konkurrenz abschotten und den Franc wieder einführen.
Wie de SVP, nur noch viel radikaler, will Marine le Pen gegen Muslime und Brüssel vorgehen. Der Islam ersetzt bei ihr das Judentum als Feindbild. Deshalb gilt: Null-Toleranz gegenüber muslimischen Symbolen wie Burkas. In den Moscheen darf nur französisch gepredigt werden, wer als Freiheitskämpfer in den Dschihad zieht, verliert die französische Staatsbürgerschaft; und ja, auch die Todesstrafe soll wieder eingeführt werden. Seit dem Angriff auf «Charlie Hebdo» sind diese Forderungen sehr populär geworden.
Die EU erntet bei le Pen nur Hass und Spott. Frankreich soll aus Euroland austreten und zum Franc zurückkehren. Wirtschaftliche Nachteile sieht sie keine. Weil alle öffentlichen Schulden damit ebenfalls in Franc notiert würden, würde daraus keine Mehrbelastung entstehen, sagt Marine le Pen. Im Gegenteil, Frankreich würde so endlich seine Währung abwerten und wieder Wettbewerbsvorteile gewinnen können. Dass ausländische Investoren, die rund zwei Drittel der französischen Staatsschulden kontrollieren, das anders sehen, interessiert le Pen nicht.
Brisant sind auch die aussenpolitischen Absichten der Marine le Pen. Der FN hat kürzlich einen Kredit in der Höhe von neun Millionen Euro von einer russischen Bank erhalten, und die Chefin macht kein Geheimnis aus ihrer Bewunderung für Wladimir Putin. «Russland zu brüskieren, wie wir das gegenwärtig tun, heisst, Russland in die Arme Chinas treiben. Das wird uns dereinst fürchterlich ärgern», erklärte sie kürzlich in einem Interview mit der «Financial Times».
Für die westliche Schutzmacht USA hat le Pen bloss Verachtung übrig und bezeichnet sie als «die am meisten diskreditierte Macht in Nahe Osten». Nur mit Russland sei eine Lösung im Irak und Syrien und Frieden mit dem IS heute möglich.
Sollte Marine le Pen dereinst tatsächlich als neue Präsidentin in den Palais de l’Elysée einziehen, wären die Folgen für Europa und den Westen desaströs: Der Euro, und möglicherweise auch die EU, würden zerbrechen. Die beiden historischen Erzfeinde Frankreich und Deutschland könnten sich wieder in die Haare geraten und der Westen wäre gespalten. Leider ist dieser Albtraum nicht gänzlich auszuschliessen.
Marine le Pen hat den FN von einem verachteten politischen Paria in eine Partei verwandelt, die für den Mittelstand wählbar geworden ist. Folgerichtig will der FN nun an die Macht. «Unser Zeitpunkt ist gekommen», sagt Marine le Pen selbstbewusst und mit einem breiten Lachen. Sie hat auch allen Grund dazu: Alle Umfragen besagen, dass sie zumindest den ersten Wahlgang bei den nächsten Präsidentschaftswahlen locker gewinnen wird.
Europa gibt's auch noch, wenn die Menschheit längst ausgestorben ist.
Zweitens: Diese ganze Untergangsrethorik verfängt einfach nicht. Wenn der Euro oder die EU auseinanderbrechen gibt's eine gewisse Zeit lang etwas Trouble und bald schon hat man sich neu organisiert.
Die ist sogar besser als die unaufhörliche Depression, in welcher sich viele Eurostaaten befinden. Besser auch für die Arbeitnehmer in Deutschland, welche hochproduktiv für Hungerlöhne arbeiten