Die beiden Ökonomen Daron Acemoglu und James Robinson weisen in ihrem Buch «Warum Nationen scheitern» überzeugend nach, dass die Industrielle Revolution nicht zufällig in Grossbritannien begonnen hat. Der technische und wirtschaftliche Quantensprung war das Resultat einer gesellschaftspolitischen Evolution. 1688/89 wurde in der «gloriosen Revolution» die Macht des Königs begrenzt und die Eigentumsrechte gesichert. Damit waren die politischen und rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die es möglich machten, dass Unternehmer die Weiterentwicklung der Dampfmaschine durch James Watt in eine neue Wirtschaftsordnung umzusetzen begannen.
Heute sind die Verhältnisse umgekehrt. Der stürmische technische Fortschritt und die Digitalisierung von immer mehr Lebensbereichen würden theoretisch die Möglichkeit für den Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung schaffen. Weil sie nicht von einem Wandel der Gesellschaft und der Wirtschaftsordnung begleitet ist, bleibt die «Dritte Industrielle Revolution» ein Schlagwort.
Derzeit sieht es auch nicht danach aus, dass sich das so bald ändern wird. Im Gegenteil, in der Politik macht sich Stagnation oder gar Rückschritt breit. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in der Supermacht USA. In Washington gibt es zwar jede Menge mit hoch dotiertem Personal bestückte Thinktanks. Die Wirkung dieser Denkfabriken ist jedoch mehr als bescheiden.
Neue Ideen haben im herrschenden politischen Klima keine Chance. Edward Luce, US-Korrespondent der «Financial Times», stellt fest: «Wer versucht, innovative Ideen auch in die Praxis umzusetzen, muss mit einem Karriereknick rechnen. Verschiedene republikanische Präsidentschaftsanwärter leugnen gar die von Menschen verursachte Klimaerwärmung, andere glauben, dass Impfen Krankheiten verursache.»
Der Politologe Francis Fukuyama zieht in einem Essay im Magazin «Foreign Affairs» ebenfalls eine deprimierende Bilanz: «Die politische Malaise verstärkt sich selbst und auch kleinste Reformen sind unwahrscheinlich geworden. Das System der amerikanischen Politik wird weiter zerfallen, es sei denn, es wird durch einen externen Schock aus seiner Lethargie gerissen.»
Joseph Schumpeters These von der «schöpferischen Zerstörung» ist die wahrscheinlich am meisten zitierte Theorie der zeitgenössischen Ökonomie. Sie besagt, dass Innovationen zwar vorhandene Ordnungen zerstören und so dafür sorgen, dass aus den Trümmern des Alten Neues entstehen kann. Angesichts der Kluft zwischen technischem Fortschritt und gesellschaftspolitischer Stagnation wird diese These derzeit ad absurdum geführt.
Der Wind der «schöpferischen Zerstörung» hat sich dank des rasanten Innovationsschubs in einen Sturm verwandelt und fällt nicht nur die morschen Bäume, sondern bedroht den ganzen Wald. Andrew Keen kommt in seinem jüngsten Buch daher zum apodiktischen Schluss: «Das Internet ist nicht die Antwort».
Keen ist kein moderner Luddite, kein Maschinenstürmer. Er kämpft nicht grundsätzlich gegen den technischen Fortschritt. Er hat sich vielmehr von einem Enthusiasten des Dotcom-Booms zu einem Kritiker des Web 2.0 gewandelt und kennt sich in der Szene aus. Punktgenau legt er den Finger auf den wunden Punkt: Die unglaublichen Widersprüche, die im Silicon Valley und in San Francisco aufeinanderprallen.
Dazu gehören scheinbare Details, wie die Tatsache, dass die derzeit erfolgreichsten Unternehmer geradezu einem Kult des Scheiterns huldigen. «Fail harder» ist ein Motto, das im Silicon Valley sehr ernst genommen wird. Wer seine ersten Pleiten hinter sich hat, der will jedoch hoch hinaus. Anders als die Wall Street Banker wollen die neuen Masters of the Universe nicht nur sehr schnell sehr reich werden, sie wollen gleichzeitig eine neue und bessere Welt schaffen.
Mit der Sharing Economy wird uns auch eine gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft in Aussicht gestellt. «Sie gaukeln uns vor, dass das Internet ein diverser, transparenter und egalitärer Ort sei – ein Ort, der die Tradition meidet und soziale und wirtschaftliche Chancen für alle ermöglicht», stellt Keen fest. In der Realität hingegen zeichnet sich etwas ganz anderes ab, eine neue feudale Ordnung.
Sie sieht wie folgt aus: An der Spitze stehen die neuen Oligarchen wie Sergey Brin und Larry Page, Peter Thiel oder Travis Kanaick. Sie verfügen über Vermögen, die bis vor kurzem noch undenkbar waren. Wer wirklich dazu gehören will, muss nun über etwa 30 Milliarden Dollar verfügen können. Ein neuer Internet-Klerus, Wissenschaftler und Journalisten, verbreitet die frohe Botschaft der Sharing Economy in den Medien.
Der breite Mittelstand hingegen, der es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Leben mit gut bezahlten Jobs und sozialer Absicherung gebracht hat, befindet sich im Niedergang. Es entsteht eine neue Klasse von Leibeigenen, Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und mit einem lausigen Mindestlohn über die Runden kommen müssen. All dies erinnert an längst überwunden geglaubte Zustände. «Wie im Mittelalter haben sich Google, Apple und Facebook von der physischen Realität und den zunehmend ärmer werdenden Gemeinschaften abgeschnitten», schreibt Keen.
Niemand verkörpert die Widersprüchlichkeit der Silicon Valley-Kultur besser als Mark Zuckerberg. Als der Gründer von Facebook noch in Harvard studierte, beschrieben ihn seine Kommilitonen als «sozial autistisch» oder gar als Geek mit einem «Toten-Fisch-Händedruck». Der ehemalige Facebook-Chefingenieur Yishan Wong wollte bei Zuckerberg gar «Anzeichen eines Asperger-Syndroms» festgestellt haben und erklärte, er verfüge über «null Empathie».
Kein Wunder also, dass das soziale Medium Facebook alles andere als sozial ist. Zahlreiche Studien und Umfragen kommen zum Schluss, dass Facebook & Co. die Menschen egoistisch, neidisch und dumm macht. Nicholas Carr zeigte in seinem Bestseller «Die seichten Untiefen» auf, dass es eine Illusion ist zu glauben, das Internet mache uns klüger. Sein ernüchternder Befund lautete vielmehr: «Je gescheiter die Software, desto dümmer der User.»
Sherry Turkle, Psychologin am MIT, befasst sich seit Jahrzehnten mit künstlicher Intelligenz. Auch sie stellt in ihrem einflussreichen Buch «Verloren unter 100 Freunden» fest, dass soziale Medien die menschliche Kommunikation verkümmern lassen. «Wir freuen uns, ständig miteinander in Verbindung zu stehen, erhalten aber selten die volle Aufmerksamkeit des anderen. Wir können in Sekundenschnelle ein grosses Publikum erreichen, aber was wir zu sagen haben, ebnen wir mit einer neuen Sprache der Abkürzungen ein.»
Die neue Sharing Economy verspricht, dass jeder sein Talent als Künstler oder Journalist ausleben kann. Andrew Keen zertrümmert diese Illusion, auch die berühmte These des «langen Schwanzes» (long tail) von Chris Anderson. Der ehemalige Chefredaktor des IT-Magazins «Wire» will damit ausdrücken, dass die digitale Wirtschaft in der Musikindustrie zu neuen Regeln führt. Selbst kleinste Aufnahmen werden rentabel, weil Transport- und Lagerkosten der analogen Welt wegfallen.
Was in der Theorie plausibel tönt, zerbricht an der Realität. Statt einer «Langen Schwanz»- entsteht eine «Gewinner-räumen-alles-ab»-Ökonomie. Wenige Superstars beherrschen die Szene. «Je mehr Inhalte online angeboten werden, desto dramatischer wird der Gegensatz zwischen dem massiven Erfolg ein paar weniger Hits und der völligen Bedeutungslosigkeit von allem anderen», stellt Keen fest.
Was für Musik gilt, trifft auch für die Gratiskultur in den Medien und neuerdings im Bildungswesen zu. Gratis-Online-Portale haben zu Massenentlassungen bei den traditionellen Zeitungen geführt, Gratis-Hochschulstudien gaukeln bloss eine neue Fairness der Bildungschancen vor: Die Studenten von Harvard können direkt mit ihren Professoren diskutieren, die anderen müssen zuschauen.
Die Kluft zwischen der privilegierten Elite und dem Rest wird nicht nur grösser, sie wird auch immer deutlicher sichtbar. Andrew Keens' Zwischenbilanz nach rund einem Vierteljahrhundert Internet fällt vernichtend aus: «Die Technologie mag neu sein, doch sie hat die Macht- und Vermögensverhältnisse nicht überwunden.»
Der neue Feudalismus im Silicon Valley ist – weil ihm jede soziale Verantwortung fehlt – noch schlimmer als derjenige im Mittelalter. Das Fazit ist niederschmetternd: «Wir haben 130-Millionen-Dollar-Yachten und Milliardäre, die von Blondinen und Butlern begleitet werden», stellt Keen fest. «Wir haben massenhaft ehrlosen Reichtum mit minimalem sozialem Verantwortungsbewusstsein. Wir haben einen neuen Adel ohne ‹nobless oblige›. Was wir nicht haben, ist eine Antwort auf die sich verschärfenden wirtschaftlichen Probleme und die soziale Ungleichheit des frühen 21. Jahrhunderts.»
Das Internet könnte durchaus eine Chance sein. Aber weil unsere Wirtschaft den Profit nach wie vor über alles stellt, musste sich das Ganze zwangsläufig so entwickeln. Solange sich an unserem derzeitigen Wertesystem nichts ändert, wird nichts Gutes entstehen.