Im laufenden Jahr hat der Ölpreis bereits rund 20 Prozent zugelegt. Anfangs November werden die amerikanischen Sanktionen gegen den Iran in Kraft treten. Mehr als zwei Millionen Fass Öl werden dann der weltweiten Öl-Versorgung fehlen. Ob die Saudis und die Russen diese Lücke füllen können, ist fraglich.
In den letzten Tagen ist der Ölpreis daher kontinuierlich gestiegen. Dieser Trend könnte zum Selbstläufer werden, die Rohstoff-Trader haben Blut gerochen. Chris Kettenmann, Chefstratege des New Yorker Rohstoff-Brokers Macro Risk Advisors, erklärt denn auch im «Wall Street Journal»: «Der Markt fasst zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder einen Ölpreis von 100 Dollar pro Fass ins Auge.»
In den 1970er Jahren hat ein steigender Ölpreis die Weltwirtschaft in eine schwere Rezession gestürzt. Weil die Abhängigkeit vom schwarzen Gold massiv abgenommen hat, wird dies kaum mehr der Fall sein. Doch auch im digitalen Zeitalter hat der Ölpreis massive Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft. Hier sind sie:
Schon vor mehr als zehn Jahren hat Thomas Friedman eine Regel aufgestellt, die er scherzhaft «das erste Gesetz der Petropolitik» genannt hat. Es besagt: Der Ölpreis und der Weltfrieden bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen. Je höher der Ölpreis, desto stärker werden autoritäre Regimes.
Dieses Gesetz hat heute noch Gültigkeit. Die grossen Profiteure des steigenden Ölpreises heissen Wladimir Putin und Mohammed bin Salman, meist MBS genannt.
Der russische Präsident befindet sich in ernsten innenpolitischen Schwierigkeiten. Seine Kriegsabenteuer in der Ukraine und in Syrien sind sehr teuer und bei den Russen zunehmend umstritten. Seinen Vorschlag, das Rentenalter zu erhöhen, musste er wegen grossem Widerstand abblasen.
Der bescheidene Wohlstand, den sich die Russen dank dem hohen Ölpreis in den Nullerjahren leisten konnten, ist in Gefahr. Das sorgt für Proteste in den Städten. Selbst die Oligarchen werden unruhig, weil sie wegen den Sanktionen nicht mehr in den Westen reisen können. Der steigende Ölpreis ist für Putin daher ein Geschenk des Himmels. Er könnte so seine «gelenkte Demokratie» zumindest vorübergehend wieder stabilisieren.
Das gilt auch für MBS. Der starke Mann in Saudi-Arabien ist im Begriff, seine zarten Reformbemühungen ad acta zu legen und den Wüstenstaat mit harter Hand zu regieren. Jüngstes Beispiel ist das rätselhafte Verschwinden des renommierten Journalisten Jamal Khashoggi. Er ist höchstwahrscheinlich von saudischen Schergen in Istanbul umgebracht worden.
Der Mord an Khashoggi wird bereits als Zeichen dafür gewertet, dass die Saudis wieder auf einen harten Kurs setzen und ihre Ziele um jeden Preis durchsetzen wollen, selbst wenn dabei die Freundschaft mit den USA getrübt wird.
Der Ölpreis hat nicht nur geo-, sondern auch innenpolitische Konsequenzen. Das gilt ganz speziell für die Vereinigten Staaten. Ein steigender Benzinpreis ist der Albtraum für jeden Präsidenten, besonders in Wahlkampfzeiten.
Donald Trump hat zwar mit seiner Iran-Politik die Ölpreisspirale in Bewegung gesetzt. Doch der US-Präsident ist bekanntlich kein Mann der Selbstkritik. Der hohe Ölpreis sei «inakzeptabel», tweetete er deshalb und erklärte, die Opec würde «den Rest der Welt abzocken».
Die Saudis sind die bestimmende Kraft in der Opec. Mit den Angriffen auf die Vereinigung der Erdöl produzierenden Länder setzt Trump auch die Achse USA-Israel-Saudi-Arabien aufs Spiel.
In den beiden letzten Jahren hat sich die Weltwirtschaft erholt. Zusammen mit dem zunehmenden Protektionismus ist ein steigender Ölpreis eine Gefahr für diese erfreuliche Entwicklung. Weil das Geld für den Konsum fehlt, droht die Nachfrage in den Industrieländern einzubrechen.
Richtig dramatisch könnte es jedoch in einzelnen Schwellenländern werden. Diese müssen einen doppelten Haken verdauen: steigender Dollar und steigender Ölpreis. Ob dies bereits angeschlagene Volkswirtschaften verkraften können, ist fraglich. Besonders gefährdet sind etwa die Türkei und Pakistan.
Die SUV-Welle, welche die westliche Welt derzeit überschwemmt, wäre ohne billiges Öl nicht möglich gewesen. Auch viele andere Bemühungen, den CO2-Ausstoss zu verringern, wurden so unterlaufen. Erdöl ist unter anderem ein wichtiger Faktor in der Landwirtschaft und der Fleischproduktion.
Der Anstieg des Ölpreises bis zu 150 Dollar pro Fass vor rund zehn Jahren hat einen Ökoschub bei Autoproduzenten und Konsumenten ausgelöst. Inzwischen ist er weitgehend verpufft. Sollte Benzin wieder längere Zeit teuer bleiben, dann besteht für die Konsumenten ein grosser Anreiz, auf Elektroautos umzusteigen. Ebenso werden sich Investitionen in energetisch hochwertige Immobilien lohnen. Wie für Putin ist daher für unsere Umwelt der steigende Ölpreis ein Geschenk des Himmels.