Ökonomen sind sich bekanntlich kaum je einig. Doch eine Frage war bisher kaum umstritten: Die USA profitieren enorm von der Tatsache, dass der Dollar die globale Leitwährung ist. Der ehemalige französische Präsident Giscard d’Estaing sprach einst von einem «exorbitanten Privileg»; und es soll gar Menschen geben, die ernsthaft glauben, die Amerikaner könnten einfach grüne Scheine drucken, um damit deutsche Autos und Schweizer Uhren zu kaufen.
Umso erstaunlicher ist daher die These, welche die beiden Ökonomen Matthew C. Klein und Michael Pettis in ihrem Buch «Trade Wars are Class Wars» vertreten. Sie behaupten nämlich genau das Gegenteil: Gerade weil der Dollar die globale Leitwährung ist, ist er für die Amerikaner eine gewaltige Last. Klein schreibt für die renommierte Finanzzeitung «Barron’s», Pettis ist Finanzprofessor an der Peking University.
Idealerweise sollten sich Handelsüberschüsse und -defizite zwischen verschiedenen Ländern über die Zeit im Gleichgewicht halten. Das leuchtet auch Laien ein. Wenn also ein Land über längere Zeit einen chronischen Überschuss oder ein chronisches Defizit aufweist, stimmt etwas nicht.
Dieses Etwas ist für Klein/Pettis eine ungleiche Verteilung des Wohlstands. Daher auch die These ihres Buches: Kommt es zu Handelskriegen, liegt die Ursache stets darin, dass eine Elite sich auf Kosten des Rests der Bevölkerung bereichert.
Klein/Pettis leiten ihre These theoretisch und historisch sauber her. Diesen Teil überspringen wir und halten bloss fest: Ungleichheit führt dazu, dass das Sparaufkommen nicht produktiv investiert, sondern verschwendet wird. Anstatt in Strassen, Schienen, Fabriken, Universitäten und Spitäler fliesst es in die Finanzmärkte und trägt so dazu bei, die bestehende Ungleichheit noch zu verstärken.
An den drei Ländern China, Deutschland und den USA erläutern Klein/Pettis ihre These.
In China hat sich in den letzten Jahrzehnten das wahrscheinlich grösste Wirtschaftswunder aller Zeiten ereignet. Aus einem Steinzeit-Kommunismus ist in kürzester Zeit die zweitgrösste Volkswirtschaft geworden und der Supermacht USA ein ernsthafter Konkurrent entstanden.
Eine Nation kann nur wohlhabend werden, wenn sie ihre Wirtschaft gegen Import abschottet und den Export mit billigen Löhnen fördert. Die Chinesen haben dies mit grossem Erfolg praktiziert. Sie haben damit jedoch auch Strukturen geschaffen, von denen bloss eine Elite so richtig profitiert. «Noch im Jahr 2018 haben die chinesischen Haushalte weniger als 40 Prozent des chinesischen Outputs konsumiert», stellen Klein/Matthew fest. «Das ist weniger als in jeder anderen bedeutenden Volkswirtschaft der Welt.»
Obwohl sich das Reich der Mitte nach wie vor kommunistisch schimpft, ist die Ungleichheit im Reich der Mitte extrem. Klein/Pettis stellen daher fest: «Die grosse nicht beantwortete Frage, die sich für China stellt, lautet: Wird es der Kommunistischen Partei gelingen, das System so zu reformieren, dass alle etwas davon haben, ohne dass die Partei ihr Machtmonopol verliert?»
Das System für den aufstrebenden Mittelstand zu öffnen, stösst jedoch auf den Widerstand der Kreise, die von dieser Entwicklung profitiert haben. Stellt euch Immobilientycoons, Staatsbanker und Manager der Staatsbetriebe vor. Gleichzeitig ist der Westen, und vor allem die USA, immer weniger bereit, die chinesischen Exporte zu schlucken.
Ebenso ist das chinesische Finanzsystem nicht in der Lage, das aus den Exportüberschüssen erwirtschaftete Geld in Kanäle zu leiten, die eine vernünftige Entwicklung der Binnenwirtschaft ermöglichen. Der Ausweg aus diesem Dilemma heisst Belt and Road Initiative (BRI). So heisst ein gewaltiges Entwicklungsprogramm, mit dem China Eisenbahnen, Schiffshafen, Autobahnen und Flughäfen in Asien, Afrika und neuerdings gar in Europa finanziert.
Die Chinesen tun dies nicht aus Nächstenliebe. Klein/Matthew stellen fest: «Das wahre Versprechen des BRI liegt darin, dass es eine neue Nachfrage nach chinesischen Exporten in Südost-Asien, Süd-Asien, Afrika, dem Nahen Osten, Osteuropa und Lateinamerika schaffen wird.»
Ob mit dem BRI die schrumpfende Nachfrage aus dem Westen aufgefangen werden kann, ist jedoch fraglich. Die Frage, wie Peking auf diese Entwicklung reagieren wird, dürfte einen entscheidenden Einfluss auf die Geopolitik der nächsten Zeit haben.
Die Wiedervereinigung war viel teurer als geplant, die Billigkonkurrenz aus dem Osten viel härter als erwartet. Diese beiden Schocks haben Deutschland um die Jahrhundertwende hart getroffen. Bald sprach man daher von Deutschland als dem «neuen kranken Mann Europas».
Das wollten die Deutschen nicht auf sich sitzen lassen. Sie reagierten mit der «Agenda 2010». Löhne und Sozialleistungen wurden gekürzt, Steuern gesenkt und bei den Staatsausgaben wurde eisern gespart.
Deutschland, das in den Neunzigerjahren noch ein leichtes Defizit in der Leistungsbilanz ausgewiesen hatte, vergrösserte nun jedes Jahr den Exportüberschuss. Ja, die Deutschen konnten bald die Chinesen als Exportweltmeister ablösen.
Doch genau wie in China profitierte davon bloss eine schmale Elite. «Selbst als sich Deutschland zu erholen begann, setzten sich die Überschüsse der frühen Nullerjahre fort», stellen Klein/Matthew fest. «Denn an der Sparpolitik im Innern und daran, den Überschuss an die Reichen zu verteilen, wurde festgehalten.»
In keinem anderen europäischen Land ist die Ungleichheit in der jüngsten Vergangenheit stärker gewachsen als in Deutschland. Dazu Klein/Matthew:
Zwischen Deutschland und den USA gibt es mehrere Parallelen: In beiden Ländern sanken die Löhne des Mittelstandes und nahm das Mass an Ungleichheit gewaltig zu. Trotzdem haben sich die Volkswirtschaften vollkommen verschieden entwickelt. Deutschland wurde zum Exportweltmeister, die USA zum Konsumenten in letzter Instanz. Weshalb?
Der Grund für diese gegensätzliche Entwicklung heisst Dollar. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Greenback zur unbestrittenen Leitwährung der Welt. Rund Zweidrittel des globalen Handels wird in Dollar abgewickelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Währungen der nicht kommunistischen Länder mittels des Abkommens von Bretton Woods via Dollar an das Gold gebunden. Als die Amerikaner Anfang der Siebzigerjahre den Goldstandard ausser Kraft setzten, wurde ihre eigene Währung zu einer Art Ersatz-Goldstandard.
Der Dollar, und vor allem die amerikanischen Staatsanleihen wurden zu begehrten Anlagevehikeln, weil sie als todsicher gelten. «Aller ihrer Klagen über ein exorbitantes Privileg zum Trotz waren die Europäer mehr als gewillt, die Schwächen des Systems auszunutzen», stellen Klein/Matthew fest.
Die starke Nachfrage nach amerikanischen Staatsanleihen führte dazu, dass der Dollar tendenziell überbewertet war, und dass amerikanische Güter und Dienstleistungen international nicht wettbewerbsfähig waren. Das führte in den USA zu einer gewaltigen Deindustrialisierung. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde nach Mexiko oder China ausgelagert. Die einst grosszügigen Löhne des amerikanischen Mittelstandes schmolzen dahin wie Schnee an der Sonne.
Für die überwiegende Mehrheit der Amerikaner ist der Dollar als Leitwährung somit kein Segen, sondern ein Fluch. Klein/Matthew kommen daher zu einem ernüchternden Fazit:
Der Amerikaner wird von den eigenen Eliten über den Tisch gezogen, da können noch so viele Professoren abenteuerliche Konstrukte bemühen um diesen Umstand zu verwedeln.