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WM 2014

Warum Amerikas Rechte den Fussball hassen – und sie allen Grund dazu haben

Tim Howard, Nationalgoalie und neuer Nationalheld.Bild: Getty Images South America
Analyse

Warum Amerikas Rechte den Fussball hassen – und sie allen Grund dazu haben

Die WM in Brasilien hat in den USA eine verblüffende Fussball-Euphorie ausgelöst. Vieles spricht dafür, dass sie kein Strohfeuer ist. Sondern Indiz für einen fundamentalen Wandel.
04.07.2014, 06:3208.07.2014, 11:16
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Für die US-Boys ist die WM in Brasilien vorbei. Im Achtelfinal scheiterte das Team von Jürgen Klinsmann gegen Belgien mit 1:2 nach Verlängerung. Die Partie war in der Schlussphase an Dramatik nicht zu überbieten, mit aller Kraft stemmten sich die Amerikaner gegen das Aus. In der Heimat wurde die Enttäuschung schnell überwunden durch den Stolz auf das Erreichte. «War diese Weltmeisterschaft ein Erfolg für die Vereinigten Staaten? Die Antwort ist ganz einfach Ja», bilanzierte die «New York Times».

Präsident Barack Obama, ein Basketball-Fan, vermeldete via Twitter, er sei «sehr stolz» auf das US-Team. Tags darauf telefonierte er mit Captain Clint Dempsey und Goalie Tim Howard, der eine Glanzleistung gezeigt und die Belgier mit seinen Paraden fast zur Verzweiflung getrieben hatte. Nun wird er als Held gefeiert. Eine Online-Petition verlangt, den nach Ex-Präsident Ronald Reagan benannten Stadtflughafen von Washington in Tim Howard Airport umzutaufen.

Für Amerikas Konservative wäre dies der blanke Horror, und das nicht nur, weil Reagan ihr Säulenheiliger schlechthin ist. Die Fussball-Euphorie ist in ihren Augen zutiefst unamerikanisch. Niemand schilderte dies so deutlich wie die stramm rechte Kolumnistin Ann Coulter. Sie ist blond, schön und befindet sich stets am Rande der Hyperventilation. «Soccer» ist für sie alles, was Amerika nicht ist: Kollektivistisch, weibisch, elitär und vor allem ausländisch. «Das Interesse am Fussball ist ein Indiz für den moralischen Zerfall der Nation», giftelte Coulter.

Ann Coulter, überzeugt von Amerikas Überlegenheit.
Ann Coulter, überzeugt von Amerikas Überlegenheit.Bild: AP

Hätte Coulter recht, dann wären die Tage der USA bald gezählt. Denn die Fakten sprechen für sich: Der Fernsehsender ESPN konnte bei den WM-Spielen des Nationalteams Rekord-Einschaltquoten verzeichnen. Den Achtelfinal gegen Belgien verfolgten 21,6 Millionen Zuschauer, bei der Vorrunden-Partie gegen Portugal schauten sogar fast 25 Millionen zu. Das sind deutlich mehr als die Finalserien in den Traditions-Sportarten Baseball, Basketball und Eishockey zuletzt verzeichnen konnten.

Damit nicht genug: Die US-Fans haben gemäss der BBC fast 200'000 Tickets für die Spiele in Brasilien gekauft. Damit sind sie die Nummer zwei hinter dem Gastgeber und liegen deutlich vor den Fussball-Grossmächten Argentinien und Deutschland. In den USA selbst erlebte das bislang eher unbekannte Public Viewing einen Boom. Fast 30'000 Fans strömten am Dienstag allein in Chicago zur Viewing Party, wie das Kollektiv-Glotzen dort genannt wird, ins Soldier Field, das städtische Football-Stadion.

30'000 Fans verfolgten USA-Belgien im Soldier Field in Chicago.Bild: EPA

All dies ist tatsächlich ein Indiz, allerdings nicht für den Zerfall, sondern für einen fundamentalen Wandel in der US-Gesellschaft. «Die Amerikaner lieben den Fussball genau aus dem Grund, für den Ann Coulter ihn hasst: Er verbindet uns mit dem Rest der Welt», schreibt der Autor Peter Beinart in einem Essay für das Magazin «The Atlantic». Amerika habe den Fussball nicht aus den von Coulter beschriebenen Erwägungen abgelehnt, sondern weil er in Europa und anderswo so populär geworden sei. Die Amerikaner wollten anders sein, auch im Sport.

«The End of American Exceptionalism» lautet der Titel eines weiteren Essays, den Beinart in diesem Jahr verfasst hat. Der Ausdruck lässt sich mit Einzigartigkeit nur unzureichend übersetzen. Er umschreibt eine Ideologie: Amerika ist herausragend. Ein auserwähltes Volk. Gottes eigenes Land. Der American Way of Life ist das leuchtende Vorbild für die Welt. Geprägt wurde diese Ideologie von den weissen angelsächsischen Protestanten, den Wasps. Während mehr als 200 Jahren dominierten sie Politik und Gesellschaft. 

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Diese Vorherrschaft neigt sich dem Ende zu. Immer weniger Amerikaner betrachten ihre Kultur als überlegen. Dies zeigt eine jährliche Umfrage des renommierten Pew Research Center: 2002 waren es 60 Prozent, 2011 noch 49 Prozent. Vor allem die Jungen halten ihr Land nicht länger für «exceptional». Sie wollen ihren Lebensstil nicht länger der Welt aufdrängen, sondern im Gegenteil von ihr lernen. Warum haben die Deutschen ihre Industrie bewahrt und wir nicht? Warum haben die Skandinavier ein gutes Bildungssystem und wir nicht? Warum liebt die Welt den Fussball?

Es ist kein Zufall, dass gerade die jungen Amerikaner diesen Sport entdeckt haben. Sie haben in der Schule Fussball gespielt und die Begeisterung als Erwachsene bewahrt. Das Durchschnittsalter der Fussballfans ist mit 37 Jahren deutlich tiefer als jenes der Baseball- und Football-Anhänger. Daneben gibt es laut Beinart zwei weitere Gruppen, die sich für Soccer interessieren: Einwanderer vor allem aus Lateinamerika, die ihren Lieblingssport aus der früheren Heimat «importiert» haben. Und die «Liberals», die traditionell weltoffenen (Links-)Liberalen.

Barack Obama im Wahlkampf 2012. Die «Fussball-Koalition» verhalf ihm zur Wiederwahl.Bild: AP

Dies verleiht Beinarts Befund eine über den Sport hinaus ragende Bedeutung: Denn genau diese «Fussball-Koalition» aus Jungen, Einwanderern und Liberalen hat Barack Obama 2008 ins Weisse Haus gespült. Und ihm 2012 in einem garstigen Umfeld die Wiederwahl ermöglicht. Bereits dieser Erfolg deutete an, dass die USA sich verändern. Der Wandel ist auch demografisch bedingt: In absehbarer Zeit werden die Weissen europäischer Abstammung eine Minderheit unter vielen sein. Das Zeitalter der Wasp-Dominanz neigt sich seinem Ende entgegen.

Kampflos werden sie nicht abtreten. Die staatsfeindliche Tea-Party-Bewegung ist eine Gegenreaktion auf das Obama-Amerika. Gleiches gilt für Bestrebungen der Republikaner, fragwürdige Wahlgesetze zu erlassen, die auf Wähler der demokratischen Partei zielen. Gut möglich, dass den Republikanern bei den Kongresswahlen im November noch einmal ein Erfolg gelingt und sie neben dem Repräsentantenhaus auch die Mehrheit im Senat erobern. Denn das Volk ist unzufrieden mit dem Präsidenten. Die Wirtschaft kommt nicht vom Fleck und aussenpolitisch läuft fast alles schief.

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Barack Hussein Obama könnte als politisch gescheiterter Präsident in die Geschichte eingehen. Und trotzdem einen herausragenden Platz darin einnehmen. Nicht weil er der erste Schwarze im Weissen Haus ist. Sondern als Symbolfigur, ja als «Gründervater» einer zweiten amerikanischen Revolution. Eines neuen Amerikas, das gegenüber dem Rest der Welt nicht mehr als «starker Mann» auftritt, sondern als Partner. Das positive Dinge von anderen übernimmt, ohne die eigenen Tugenden zu verlieren: Idealismus, Eigenverantwortung und vor allem die überbordende Kreativität.

Man sollte mit Prognosen dieser Art vorsichtig sein. Doch vieles deutet in diese Richtung, nicht zuletzt die neue Fussball-Liebe der Amerikaner. Ann Coulter sollte davor «grosse Angst» haben, meint Peter Beinart. Das neue Amerika wird nicht mehr «ihr» Land sein. Sondern ein besseres, für die Welt und für sich selbst.

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