Eine wie ursprünglich geplant bombastische Show mit Feuerwerk und Bootsfahrten in Las Vegas wurde die erste Runde der wichtigsten NFL-Veranstaltung nach dem Super Bowl wegen der Coronavirus-Pandemie nicht. Dennoch hatte auch der erste virtuelle Draft der NFL-Geschichte seinen Reiz.
Statt vor Ort in Las Vegas arbeiteten alle Trainer und Manager von zu Hause und waren via Internet, Telefon und Handy im Kontakt. Aus einem behelfsmässig eingerichteten Studio bei sich zu Hause leitete NFL-Commissioner Roger Goodell das etwas trockene, aber dennoch vertraute Geschehen. Für einen Abend lang herrschte in der amerikanischen Sport-Welt ja fast so etwas wie Normalität.
Die Nummer 1 war keine Überraschung: Wie erwartet entschieden sich die chronisch erfolglosen Cincinnati Bengals mit dem ersten Pick für Joe Burrow. Der 23-jährige Quarterback wurde nach 60 geworfenen Touchdown-Pässen zuletzt als bester College-Football-Spieler der USA ausgezeichnet und sicherte sich mit der Louisiana State University auch die College-Meisterschaft. «Ein Traum wird wahr», erklärte der Nummer-1-Pick in einer ersten Reaktion.
Burrow ist ein Multitalent, aber auch ein Spät-Starter. Auch im Baseball und Basketball wurde ihm eine Profi-Karriere zugetraut, doch er entschied sich für Football. Sein Weg verlief allerdings nicht geradlinig. An der Ohio State University war er als Quarterback nur Back-up, weshalb er zu den LSU Tigers nach Louisiana wechselte. Nach einer durchschnittlichen ersten Saison folgte in seinem letzten College-Jahr schliesslich die grosse Leistungsexplosion.
Burrow gilt als akribischer Arbeiter. Vor seiner ersten Saison holte er sich bei einem der Besten rat – bei Quarterback-Legende Peyton Manning. Auf ESPN erzählte dieser vor dem Draft von einem Telefongespräch und was er Burrow riet: «Ich habe ihm gesagt: Das Rookie-Jahr in der NFL ist nicht dasselbe wie das letzte Jahr am College. Es gibt einen Grund, warum die Bengals als Erste wählen dürfen. Aber wenn du lernst, wie schnell du den Ball loswerden musst und wie die Verteidigungen funktionieren, wirst du ein besserer Spieler.»
Mit dem zweiten Pick – auch das überraschte nicht – landete Pass Rusher Chase Young bei den Washington Redskins. Die leisen Gerüchte, die Redskins hätten bereits kein Vertrauen mehr in ihren Quarterback Dwayne Haskins, den sie im letzten Jahr in der ersten Runde gezogen hatten, zerschlugen sich damit schnell.
Young war die logische Wahl. Der 1,96 Meter grosse und 120 Kilogramm schwere Defensive End wird von vielen Experten und Scouts noch besser eingestuft als der letztjährige Defensive Rookie of the Year Nick Bosa von den San Francisco 49ers.
“It's time to go to work. It's go time now.” - @youngchase907
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Nachdem sich die Detroit Lions an dritter Position für Cornerback Jeff Okudah und die New York Giants an vier für Tackle Andrew Thomas entschieden hatten, begann das alljährliche Quarterback-Picking.
Die Miami Dolphins sicherten sich an fünfter Position die Dienste von Tua Tagovailoa. Der Linkshänder gilt zusammen mit Burrow als talentiertester Spielmacher dieses Drafts, ist aber auch etwas gar verletzungsanfällig. Der 22-jährige Hawaiianer, dessen Stern 2018 im Orange Bowl aufging, hatte sich vor den College-Playoffs schwer an der Hüfte verletzt und danach zusehen müssen, wie seine Crimson Tide aus Alabama es nicht in die Postseason schafften.
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Der dritte Quarterback wurde nur einen Pick später vergeben und landete bei den Los Angeles Chargers: Justin Herbert gilt als verkanntes Supertalent. Der 1,98 Meter grosse Quarterback aus Oregon bringt vor allem einen starken Wurfarm und eine gute Athletik mit und soll bei den Chargers den zu den Colts abgewanderten Philip Rivers beerben.
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Die einzige echte Überraschung in der ersten Runde des NFL-Drafts könnte für das Ende einer Ära sorgen: Die Green Bay Packers tradeten sich in der 1. Runde in einem Deal mit den Miami Dolphins hoch und holten an 26. Stelle statt des erwarteten Wide Receivers Quarterback Jordan Love von der Utah State University. Klar, dass Love dereinst den mit 36 in die Jahre gekommenen Aaron Rodgers beerben soll.
Für die Packers-Fans muss es ein Déjà-vu sein: Rodgers wurde beim NFL-Draft 2005 an 24. Stelle gewählt und beerbte drei Jahre später unerwartet früh Brett Favre als Spielmacher. Seither entwickelte sich «A-Rod» zu einem der besten Quarterbacks der NFL-Geschichte. Dasselbe haben die Packers jetzt mit Love vor. «Ich bin super aufgeregt», sagte der 21-jährige neue Hoffnungsträger gegenüber ESPN. «Ich kann eine Menge lernen von Aaron Rodgers.»
"He can make all the throws. He's a very good athlete."
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GM Brian Gutekunst on first-round pick @jordan3love.#PackersDraft | #GoPackGo pic.twitter.com/SjooQgsTpS
Die New England Patriots verzichteten auf ihren Erstrunden-Pick – sie gaben ihn für einen Zweit- und Drittrunden-Pick an die Los Angeles Chargers ab. Was also führt Coach Bill Belichick im Schilde? Der Trainerfuchs hatte schon in früheren Drafts mit unüblichen Strategien und einem feinen Händchen überrascht. Tom Brady zog er im Jahr 2000 beispielsweise in der 6. Runde an Nummer 199. Und genau für diesen Brady, der nach 20 Jahren bei den «Pats» zu den Tampa Bay Buccaneers gewechselt hat, braucht Belichick nun Ersatz.
Die Patriots hatten ihren Erstrundenpick an 23. Stelle und damit ein gutes Stück weg von den Top-Quarterbacks wie Joe Burrow, Tua Tagovailoa oder Justin Herbert. Da ein Hochtraden nicht möglich war, glauben die Experten, dass sich Belichick auf die Talente in den hinteren Runden konzentrieren möchte. Jacob Eason, Jake Fromm oder Jalen Hurts wären wohl in Runde 3 zu haben – wen hat Belichick wohl als nächsten Brady ausgemacht?
#Patriots trade the 23rd overall pick to the Los Angeles Chargers for the 37th and 71st overall picks. #PatsDraft pic.twitter.com/bI3YeCw406
— New England Patriots (@Patriots) April 24, 2020
Die zweite und dritte Draft-Runde geht heute über die Bühne, die letzten vier Runden am Samstag.
Als Sieger der 1. Draft-Runde gelten bei vielen Experten die San Francisco 49ers. Der Super-Bowl-Verlierer von 2020 sicherte sich dank zweier Tauschgeschäfte gleich zwei Picks und bekam mit der aggressiven Strategie, was man wollte: Der an Nummer 14 gezogene Defensive Tackle Javon Kinlaw soll den Abgang von DeForest Buckner kompensieren und mit dem bestens in die Offense von Kyle Shanahan passenden Wide Receiver Brandon Aiyuk, den auch die Packers auf dem Radar hatten, sicherte man sich ausserdem valablen Ersatz für Emanuel Sanders.
Brandon Aiyuk is Bay bound! @THE2ERA | #49ersDraft pic.twitter.com/ErQOXoRkNi
— San Francisco 49ers (@49ers) April 24, 2020
NFL-Commissioner Roger Goodell ist bei den Teambesitzern äusserst beliebt. Kein Wunder: Dank seiner Hilfe wurde die NFL in den letzten Jahren zur grossen Cash-Cow. Bei den Fans dagegen ist Goodell alles andere als populär. In der Vergangenheit gehörte es zur Draft-Tradition, dass der NFL-Boss vor jedem der in der ersten Runde von ihm verkündeten Picks nach Kräften ausgebuht wurde.
Auch zu Corona-Zeiten musste nicht auf den Brauch verzichtet werden – und natürlich wurde er ganz nach Goodells Gusto auch kommerzialisiert. Der offizielle Bierhersteller der Liga rief Fans dazu auf, Kurzvideos mit Buhrufen aufzunehmen, die dann eingespielt werden konnten. Pro Video will die Firma einen Dollar an einen Fonds für Betroffene des Coronavirus spenden.
Goodell selber zeigt zu Beginn der Live-Übertragung gar einen Anflug von Selbstironie, als er sagt, dass er «die Interaktionen mit den Fans schon etwas vermisse».