Mit 41 Minuten Verspätung geht es endlich los in Mar del Plata. In der argentinischen Küstenstadt haben die ungeduldigen Zuschauer schon laut gepfiffen. Sie wussten ja nicht, weshalb sich der Beginn der Partie zwischen Frankreich und Ungarn verzögert hat. Jetzt wundern sie sich.
1978 steht in vielen Stuben noch ein Schwarz-Weiss-Fernseher. Etwas, an das die FIFA schon früh denkt. Zwei Fussballteams müssen klar unterscheidbare Trikots tragen, damit jeder TV-Zuschauer sie auseinanderhalten kann. Im Februar wendet sich der Weltverband daher an den französischen und den ungarischen Verband. In einem Schreiben ordnet er an: Ungarn solle im roten Heim-, Frankreich im weissen Auswärtstrikot auflaufen.
Doch noch vor der WM ändert die FIFA ihre Meinung und bestimmt: Frankreich hat in blau zu spielen, Ungarn in weiss. Das Schreiben trifft zwar in Paris ein. Doch die Funktionäre schenken ihm wohl zu wenig Aufmerksamkeit. Jedenfalls wird beim Aufwärmen in Mar del Plata klar: Sowohl Franzosen wie Ungarn beabsichtigen, in weiss zu spielen.
«Weisses Trikot?», fragt Frankreichs Henri Michel sein Gegenüber. «Ja, weiss», bestätigt Andras Töröcsik. Nun ist guter Rat teuer. Beide Teams haben nur weisse Trikots dabei. Die blauen hat die französische Equipe in Buenos Aires gelassen, 400 Kilometer entfernt.
Die Franzosen brauchen also Ersatz, möglichst dunklen – wegen des besseren Kontrasts zum ungarischen Jersey. Fündig werden die Franzosen beim lokalen Club Atlético Kimberley. Dieser rückt immerhin einen neutralen Trikotsatz seiner Junioren raus. Vertikal grün-weiss gestreift ist dieser und naturgemäss eher klein. Dass die Franzosen dazu blaue Hosen und rote Stutzen tragen, treibt den Puls jedes Modedesigners in ungesunde Höhen.
Mit dem Vorhandensein von Trikots sind aber noch nicht alle Probleme aus der Welt geschafft. Denn diejenigen von Kimberley haben keine Rückennummern. Also müssen diese eiligst noch angebracht werden. Dass sie nicht immer mit der Nummer auf der Hose übereinstimmen, wird in Kauf genommen. Claude Papi kommt so zur Ehre, sein einziges Spiel an einer WM mit der Nummer 10 bestreiten zu dürfen – vorgesehen war für ihn die 12.
Dass die Franzosen das Trikot des lokalen Teams tragen, hat einen angenehmen Nebeneffekt: Die argentinischen Zuschauer stehen hinter der «Equipe Tricolore», die an diesem Nachmittag gar zur vierfarbigen Truppe geworden ist. Vielleicht auch deshalb gewinnt Frankreich das offensiv geführte Spiel gegen Ungarn 3:1, nachdem es zuvor gegen Italien und WM-Gastgeber Argentinien jeweils 1:2 verloren hatte.
Offen ist, ob die Behauptung des französischen Nationaltrainers Michel Hidalgo zutrifft. In seiner Autobiographie schreibt er, die Ungarn hätten ihre roten Trikots dabei gehabt, sich aber geweigert, diese anzuziehen. Die Ungarn selber sagen im Stadion, die roten befänden sich im 30 Kilometer entfernten Mannschafts-Quartier.
Der französische Verband kommt wegen seines Lapsus mit einem scharfen Verweis davon. Konsequenzen hat der Vorfall für den zuständigen Funktionär: Er wird entlassen.
Unklar ist der Verbleib der legendären Kimberley-Trikots. Die Zeitung «La Capital» aus Mar del Plata ging der Frage 2018 nach. Die Bedeutung dieser Trikots habe damals niemand erfasst, sagte ein früherer Klubpräsident. Bis heute ist nach der Partie nur eines der 14 an die Franzosen abgegebenen Trikots wieder aufgetaucht. Die Nummer 5, die François Bracci trug, ist mittlerweile im FIFA-Museum in Zürich ausgestellt.
In grün-weissen Trikots laufen die Franzosen trotz ihres Sieges nie mehr auf. Blau ist ihre Farbe, in diesen Trikots werden sie 1998 und 2018 Weltmeister. Den WM-Final 2022 verlieren «les Bleus» aber in blau, genauso wie sie im WM-Final 2006 in weiss den Kürzeren ziehen. Vielleicht wäre grün-weiss doch nicht die schlechteste Option …