«Ich konnte es nicht glauben!» Linienrichter Roger Giger, ein 41-jähriger Luzerner, ist nach dem Spiel am Boden zerstört. Gleich nach dem Schlusspfiff hat er seinen Kollegen Claudio Circhetta, später FIFA-Schiedsrichter, angerufen. Und der sagt Giger zur Szene, welche die Gemüter erhitzt: «Tut mir leid, kein Tor.»
Aber der Reihe nach. In St.Gallen hat sich Ende April der Winter zurückgemeldet. Über Nacht hat es rund 20 Zentimeter Neuschnee hingeworfen. Dass das Fernseh-Livespiel um 16.15 Uhr stattfinden kann, scheint ausgeschlossen. Doch weil die TV-Übertragung Geld einbringt, setzen die Grün-Weissen alles daran, dass gespielt werden kann. Morgens um 6.30 Uhr beginnt die Schneeräumung, an der sich Junioren und Fans des FCSG beteiligen.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit – den die Schneeschaufler gewinnen. Um 16.07 Uhr gibt Schiedsrichter Dieter Schoch grünes Licht. Acht Minuten vor dem Anpfiff.
Abwehrchef Marco Zwyssig bringt St.Gallen nach einer halben Stunde in Führung. Kaum hat die zweite Halbzeit begonnen, kommt es zum «Skandal», wie es FCB-Trainer Christian Gross hinterher sagen wird. Jerren Nixon misslingt eine Flanke vor das Tor der Basler, FCB-Goalie Miroslav König pflückt den Ball herunter. Doch plötzlich Konfusion: Der Linienrichter zeigt ein Tor an. Giger hat den Ball in seinem ganzen Umfang hinter der Linie gesehen. Schiedsrichter Schoch vertraut seinem Assistenten und gibt den Treffer.
Die Espen nehmen das Geschenk gerne an, sie feiern das 2:0. Derweil bestürmen die Basler Schieds- und Linienrichter. Umgehend legt der FCB durch Captain Mario Cantaluppi noch auf dem Spielfeld Protest ein.
Es ist die umstrittenste Szene des Spiels, aber längst nicht die einzige hitzige. Schon nach 13 Sekunden zückt Schiri Schoch erstmals Gelb (gegen Sébastien Barberis), bereits nach 25 Minuten ist der Arbeitstag von Nenad Savic vorbei. Erst foult er Patrick Winkler übel, später leistet er sich eine Tätlichkeit am St.Galler. Eine Viertelstunde vor dem Ende muss mit Philippe Cravero noch ein Basler früher runter – und trotzdem gelingt neun Baslern der Ausgleich zum 2:2.
Dass es nicht dabei bleibt, liegt aus Sicht von Rot-Blau am Schiedsrichter. Vier Nachspielminuten zeigt Schoch an, sechs werden es am Ende. So, dass Marc Zellweger in der 96. Minute mit seinem Kopfball-Treffer im Gewühl nach einem Corner zum 3:2 einer denkwürdigen Finalrunden-Partie die Krone aufsetzt.
Nach all den Ereignissen drehen einige Exponenten des FC Basel durch. «Was gestandene Männer da im Garderobentrakt so von sich gaben, war nicht druckreif», berichtet die «Basler Zeitung». Carlos Varela bezichtigt sämtliche St.Galler der permanenten Selbstbefriedigung. Trainer Gross hat in seiner ganzen Karriere «noch nie einen solchen Fehlentscheid erlebt.» Und FCB-Manager Erich Vogel (er war nicht immer bei GC) fordert, dass das Schiedsrichtertrio mindestens bis Ende Jahr gesperrt wird.
Vogel fordert auch ein Wiederholungsspiel und verweist auf das Phantomtor von Thomas Helmer in der Bundesliga. Der Bayern-Verteidiger hatte 1994 den Ball am Pfosten vorbei neben das Tor geschossen, was vom Schiedsrichter jedoch als Tor erkannt wurde. Bayern siegte 2:1, der DFB liess das Spiel wegen des krassen Fehlentscheids wiederholen, woraufhin Bayern gleich 5:0 siegte.
Der Thriller im Espenmoos wird nicht wiederholt. Am 1. Mai, eine gute Woche nach der Partie, tagt die Disziplinarkommission der Nationalliga, die aber nicht einmal auf den Protest des FC Basel eingeht. Denn der Pfiff sei als Tatsachenentscheid des Schiedsrichters zu werten – und die sind unumstösslich. Da spielt es auch keine Rolle, dass eine Firma in dreitägiger Arbeit ermittelt haben will, dass zu einem regulären Treffer genau 18 Zentimeter fehlten.
Für den FCB sind die Ereignisse ohnehin ein Déjà-vu. Ein Jahr zuvor, auf dem Weg zum Meistertitel des FC St.Gallen, wird Basel im Espenmoos der vermeintliche Siegtreffer von Oliver Kreuzer aberkannt. Schon wieder sei man in St.Gallen «betrogen» worden, ärgert sich Präsident René C. Jäggi.
«Ich weiss nicht, was geschehen muss, damit St.Gallen auf dem Espenmoos nicht gewinnt», sagt deshalb nach der neuerlichen Enttäuschung Benjamin Huggel. Tatsächlich endet die Serie von 35 Spielen der Ungeschlagenheit erst in der letzten Runde der Saison 2000/01. Die Ausgangslage ist klar: Der Sieger des Duells St.Gallen gegen GC ist Meister, bei einem Unentschieden kann Lugano profitieren. Am Ende jubeln die Grasshoppers, die mit einem 4:0-Sieg den Titel holen.