1994 ist das Schweizer Eishockey noch so weit von der NHL entfernt wie die Erde vom Mond. Kein Schweizer hat jemals eine einzige Minute in der besten Eishockeyliga der Welt gespielt, das Nationalteam pendelt zwischen A- und B-WM. Doch als es in der NHL zu einem Lockout kommt, weil sich die Teambesitzer und die Spielergewerkschaft nicht über einen Gesamtarbeitsvertrag einigen können, schrumpft die Distanz. Der Mond wird für Schweizer Klubs plötzlich erreichbar: Mehrere engagieren einige der besten Spieler der Welt.
Den prominentesten Namen besitzt die Verstärkung des Schlittschuhclubs Rapperswil-Jona: Doug Gilmour, 1989 Stanley-Cup-Sieger mit den Calgary Flames. Der 31-jährige Kanadier wechselt als Captain der ruhmreichen Toronto Maple Leafs zum NLA-Aufsteiger. Seine Ankunft ist für den SCRJ mindestens so bedeutend wie Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond für die Menschheit. Plötzlich ist der kleine Klub am oberen Zürichsee selbst in kanadischen Medien ein Thema.
SCRJ-Präsident Bruno Hug erinnert sich noch Jahre später in der «SonntagsZeitung» über seinen Transfer-Coup. «Die Fans fanden die Attraktion grossartig: Als Kleinklub waren wir in der Saison zuvor aufgestiegen – und auf einmal waren wir die verrücktesten Typen der Liga.»
Am 14. November, einen Tag vor seinem ersten Spiel, landet Gilmour um 09.47 Uhr in Kloten. Um 12.01 Uhr betritt er erstmals Rapperswiler Eis, nachdem er zuvor, wie der «Blick» weiss, ein Gipfeli gegessen hat. Nach dem Mittagessen gibt der Spielmacher mit der Erfahrung von 1082 NHL-Spielen eine Medienkonferenz. «Ich brauche einige Matches, bis ich wieder top bin», dämpft Gilmour zu übertriebene Erwartungen. Ihm fehle nach der langen Pause noch die Spielpraxis. Ums Geld gehe es ihm nicht, er wolle einfach spielen. Der grosse Star geniesst es zudem, in der Schweiz Zeit mit seiner Frau und den zwei Kindern verbringen zu können.
Gilmour, in der Vorsaison mit 111 Punkten in 83 Spielen der viertbeste Skorer der NHL, zeigt gleich bei erster Gelegenheit, was er drauf hat. Zu drei Toren gibt er das Zuspiel, so dass Rapperswil-Jona gegen den Nationalliga-A-Tabellenführer EV Zug nach einem 0:2-Rückstand scheinbar sicher mit 6:3 in Führung liegt.
«Wenn man nicht schläft, muss man mit Doug einfach Tore schiessen», schwärmt Mitspieler Tom Bissett nach seinem Hattrick, «dieser Typ muss auch am Hinterkopf Augen haben!» Und Trainer Pekka Rautakallio ist Feuer und Flamme: «Was Gilmour anfasst, wird zu Gold!»
6000 Zuschauer quetschen sich an diesem Dienstagabend ins Eisstadion Lido, das damit ausverkauft ist. Sie kommen wegen Gilmours Einstand – und gehen als Zeugen einer der unglaublichsten Aufholjagden, die sich je auf Schweizer Eis ereignet haben. Denn der EVZ nutzt eine Fünf-Minuten-Strafe des Gegners aus und schiesst in den letzten 31 Sekunden tatsächlich drei Tore!
Daniel Meier verkürzt nach 59:29 Minuten auf 4:6. «Ich dachte, mein Tor sei höchstens noch Resultatkosmetik», erinnert er sich noch Jahre später an den Match. «Aber nach dem 5:6 glaubten wir wieder daran.» Dieses erzielt Misko Antisin, 59:41 zeigt die Matchuhr an. Zug drückt, Rappi schwimmt – und eine Sekunde vor dem Ende haut Dan Quinn, auch er ein Lockout-Spieler aus der NHL, den Puck ins Netz. Der Ausgleich, 6:6, Verlängerung.
«So etwas Verrücktes habe ich noch nie erlebt», sagt Gilmour zum verspielten Sieg. Wenigstens holt Rapperswil einen Punkt, denn in der Verlängerung fällt kein Tor und Penaltyschiessen gibt es erst in den Playoffs.
Die Zuschauer in Rapperswil-Jona waren aus dem Häuschen und Doug Gilmour gab die Blumen zurück. «Grossartig, diese Fans! Alle meine Erwartungen wurden noch übertroffen!», zeigte sich der Stürmer nach seinem Debüt entzückt von der Stimmung.
Auf dem Eis war er der erhoffte Leader. «Obwohl Gilmour kein besonders grosser Spieler war, wuchs er mit seiner aggressiven und harten Spielweise über alle in der NLA hinaus», lobte ihn die «Südostschweiz». «Beim SCRJ checkte, kämpfte und steckte er ein, als ginge es um den Gewinn des Stanley Cups.»
Ex-Präsident Bruno Hug betonte: «Gilmour war ein Profi, er trainierte hart.» Allerdings: «Gegenüber den Medien redete er vom Sport, aber genoss auch das Leben.» Nach einigen Abenden habe er das Team in den Ausgang eingeladen, «und prompt füllte er die ganze Mannschaft ab – Geld spielte ihm keine Rolle.»
Diesen Eindruck bestätigen einige Anekdoten, die überliefert sind. So habe Gilmour in seinen Latzhosen stets ein Bündel Tausendernoten dabei gehabt, heisst es etwa. Ein Mal habe der 31-Jährige beim Fondue-Essen mit den Teamkollegen aus dem Nichts eine Polonaise gestartet, habe diese ins Freie geführt und sei in ein geparktes Auto gestolpert. «Uns fuhr der Schreck in die Glieder. Er blieb regungslos liegen», erzählte Mitspieler Harry Rogenmoser. Nach wenigen Minuten habe Gilmour den blutigen Kopf geschüttelt und sich wieder dem Fondue gewidmet. Als Trainer Rautakallio tags darauf im Training das blaue Auge und die Schramme im Gesicht bemerkte, habe Gilmour bloss gesagt: «I hit a fucking Mercedes.» Ende der Angelegenheit.
«Wir hatten viel Spass mit ihm, er war ein super Typ. Und er genoss es, in Rapperswil auszugehen, ohne erkannt zu werden. Das wäre für ihn in Toronto unvorstellbar gewesen», schilderte Rogenmoser. Apropos Kanada: In Zeiten vor Skype und WhatsApp war es schwieriger, mit der Heimat in Kontakt zu bleiben. «Als er abgereist war, rief uns das Hotel an, wohin man seine Telefonrechnung von über 8000 Franken senden könne», schilderte Hug.
Am Ende ging die Rechnung für den SCRJ trotzdem auf. In den Spielen mit Gilmour holte das Team im Schnitt mehr Punkte als zuvor und finanziell hatte sich das Risiko gelohnt. «Der Transfer war ein voller Erfolg», fasste Hug rückwirkend zusammen. «Er hat uns für die neun Spiele, die er bei uns war, gegen 70'000 Franken gekostet, alles inklusive. Dank des Zuschauerzuwachses und verschiedenen Aktionen haben wir mit Gilmour jedoch zwischen 80'000 und 100'000 Franken zusätzlich eingenommen.»
Bloss 28 Tage dauerte es, dann war die Romanze nach neun Partien für den SC Rapperswil-Jona schon wieder vorbei. Am 12. Dezember flog Gilmour nach Hause und nach der Weihnachtspause kehrte er nicht wie erhofft in die Schweiz zurück, denn die Besitzer der NHL-Teams und die Spielergewerkschaft konnten sich doch noch über einen Gesamtarbeitsvertrag einigen. Die Regular Season wurde auf 48 Partien gekürzt, alle Stars spielten wieder in Nordamerika.
Ohne seinen Superstar brach Rapperswil-Jona wieder ein, verlor die letzten 13 Partien der Qualifikation alle und verpasste die Playoffs deutlich. Die Playouts gegen den EHC Biel begannen mit einer 0:7-Klatsche, «nach dem Spiel war es lange, sehr lange, sehr ruhig in der Garderobe», verriet Harry Rogenmoser. Letztlich gelang der der Ligaerhalt doch noch und der SCRJ blieb in der NLA.
Gilmour, der in der Schweiz zwei Tore erzielte und 13 Assists gab, schied mit den Toronto Maple Leafs in der ersten Playoff-Runde aus. Den Stanley Cup gewannen erstmals in ihrer Geschichte die New Jersey Devils.
Seine Laufbahn beendete Doug Gilmour 2003 nach 1656 NHL-Einsätzen, in denen er 1602 Skorerpunkte sammelte. Im Jahr 2011 wurde der Stanley-Cup-Sieger von 1989 in die Hockey Hall of Fame aufgenommen.
An das Spiel mag ich mich noch gut erinnern. Die EVZ Aufholjagd war spektakulär und es hat sich ausbezahlt bis zum Ende zu warten.