Wir wissen nicht, wie Roger Federer die überraschenden Resultate des Montags zur Kenntnis genommen hat. Er wird es ohnehin nie zugeben, aber man kann sich sehr gut vorstellen, dass dem Titelverteidiger in Melbourne ein Lächeln über die Lippen gehuscht ist.
Denn Federers potenzieller Halbfinal-Gegner Novak Djokovic ist im Achtelfinal hängengeblieben, er unterlag dem Koreaner Hyeon Chung in drei Sätzen.
Nicht weniger überraschend: Tennys Sandgren setzte seinen Siegeszug fort; der Amerikaner warf nach Stan Wawrinka auch die Weltnummer 5 Dominic Thiem raus. Chung und Sandgren spielen den Halbfinalisten aus, der hoffentlich Roger Federers Gegner sein wird.
Federer's road to the #AusOpen final:
— Luis. (@serenapower_) 22. Januar 2018
R1 🎂
R2 🍰
R3 🍭
R4 🍬
QF Berdych
SF 🎂🍰🍬🍭
Doch bevor es zu diesem Duell kommt, muss der Schweizer am Mittwoch erst Tomas Berdych aus dem Weg räumen. 25 Mal haben sie schon gegeneinander gespielt, Federer führt klar mit 19:6 Siegen und er hat die letzten acht Begegnungen mit dem Tschechen alle für sich entschieden. Alles klar also? Nicht ganz.
Zum einen ist der 32-jährige Berdych in Form: Fabio Fognini im Achtelfinal und Juan Martin del Potro in der Runde zuvor schlug er beide glatt in drei Sätzen, insgesamt gab er in diesen beiden Partien nur 17 Games ab. «Ich bin glücklich, dass ich wieder in Form bin», sagte Berdych. «Ich bin gesund, das macht den Unterschied.» Und andererseits geht trotz der 24 Begegnungen seither niemals die Erinnerung ans allererste Aufeinandertreffen vergessen: Als Berdych an den Olympischen Spielen 2004 in Athen den haushohen Favoriten Federer stoppte. Der Einzel-Olympiasieg ist bis heute der einzige nennenswerte Titel, den Federer nicht gewinnen konnte.
Übersteht der «Maestro» die Hürde Berdych, so winkt den Tennis-Fans eine Wiederholung des letztjährigen Melbourne-Finals zwischen Roger Federer und Rafael Nadal. Denn bei allem Respekt vor den Aussenseitern Chung und Sandgren: Sie können nicht in jedem Spiel über sich hinauswachsen, selbst wenn sie in der Form ihres Lebens sind.
Der Tennis spielende Tennys Sandgren aus Tennessee ist das definitiv. Die Nummer 97 der Welt hat noch nie ein ATP-Turnier gewonnen und spielt zum ersten Mal überhaupt an den Australian Open. Doch erst liess Sandgren dem rekonvaleszenten Stan Wawrinka keine Chance, nun beendete er (nach einem Sieg über Maximilian Marterer) auch das Turnier von Dominic Thiem. In fünf Sätzen schlug er den Österreicher. «Ich kann fast nicht glauben, was hier gerade geschieht», sagte Sandgren, «aber vielleicht ist das ja wirklich kein Traum!»
Die noch grössere Überraschung gelang nur wenig später Hyeon Chung. Der 21-jährige Koreaner, Sieger der «Next Gen Finals» im November, besiegte Novak Djokovic. Der sechsfache Australian-Open-Champion verlor in knapp dreieinhalb Stunden 6:7, 5:7 und 6:7. Was Chung zeigte, war oft ganz grosses Kino. «Er hat beeindruckend gespielt und war in den entscheidenden Momenten der bessere Spieler», anerkannte Djokovic.
Noch ist Chung die Nummer 58 der Welt, aber gemäss seinem serbischen Gegner hat er das Zeug für die Top Ten. «Da habe ich keine Zweifel», sagte Djokovic. «Es liegt nun an ihm, wie weit nach vorne er es schaffen wird. Aber er hat alles, was dazu notwendig ist.» Er könne Chung gut leiden, so der Serbe weiter, «denn er ist ein harter Arbeiter, diszipliniert, ein netter Kerl, ruhig.»
Chung stiess als erster Koreaner überhaupt in einen Grand-Slam-Viertelfinal vor. Er wolle diesen Moment geniessen, sagte er nach dem Sieg über sein Idol, aber natürlich blickte er auch schon voraus. «Ich versuche einfach, in jedem Spiel voll konzentriert zu sein. Tennys Sandgren ist ein sehr guter Spieler, aber ich werde bereit sein. Unsere Situation ist wohl ziemlich ähnlich, wir stehen beide erstmals in einem grossen Viertelfinal.»
Nur für einen der beiden geht die fabelhafte Reise am anderen Ende der Welt noch weiter. Für eine Partie – oder gar für zwei? Ein Finaleinzug von Hyeon Chung oder Tennys Sandgren wäre die grösste Überraschung seit 2008, als Jo-Wilfried Tsonga es als bislang letzter ungesetzter Spieler in ein Grand-Slam-Endspiel schaffte (der Franzose verlor in Melbourne gegen Djokovic).