St.Petersburg, Clermont-Ferrand, Linz, Poitiers, Hua Hin, Taipeh, Dubai. In den Niederungen der ITF-Tour und abseits des grossen Rummels war Belinda Bencic im Herbst nach ihrer fünfmonatigen Verletzungspause und der Operation am linken Handgelenk wieder auf die Tour zurückgekehrt. Vier Monate später trat sie beim ersten grossen Rendez-vous der Saison auf dem Centre Court im Melbourne Park wieder ins Scheinwerferlicht. Mit ihrem 6:3, 7:5-Sieg gegen die Vorjahresfinalistin Venus Williams zeichnete sie am Ufer des Yarra Rivers für die grösste der vielen Überraschungen am ersten Turniertag verantwortlich.
Dass sie auf den möglichen Wiedereinstieg auf Stufe WTA aufgrund des geschützten Rankings verzichtete, hat sich ausbezahlt. Von den 38 Partien seit ihrem Comeback gewann Bencic 34. Und mit Venus Williams schlug sie erstmals seit knapp zwei Jahren, als sie mit dem Einzug in die Top Ten ihren bisherigen Karrierehöhepunkt erreicht hatte, wieder eine Spielerin aus den Top 5. «Auf die Tour zurückzukommen und gleich wieder gegen eine solche Spielerin wie Venus anzutreten, wäre nicht gut gewesen – weder für das Handgelenk noch für das Selbstvertrauen», sagte Bencic.
Bereits beim Sieg am Hopman Cup in Perth an der Seite von Roger Federer hatte Bencic mit den Einzelerfolgen gegen Naomi Osaka, Anastasia Pawljutschenkowa und Coco Vandeweghe angedeutet, dass sie wieder mit den Besten mithalten kann. Vom schwierigen Los in Melbourne liess sie sich nicht beirren. «Ich war auch nicht begeistert gewesen», so Bencic. «Aber warum sollte ich wegen etwas Energie verschwenden, das ich nicht ändern kann?»
Im fünften Duell mit der siebenfachen Grand-Slam-Gewinnerin legte sie den Respekt ab. Als Mitte des ersten Satzes beim Stand von 4:3 und 40:40 das Schliessen des Dachs über der Arena zu einer knapp halbstündigen Unterbrechung führte, bestand Bencic diesen mentalen Test mit Bravour. Ein heikler Moment, wie sie später zugab. Nach Wiederaufnahme der Partie brachte sie mit sechs Punkten in Folge den Satzgewinn unter Dach und Fach, eine knappe Stunde später verwertete sie mit einem Winner ihren ersten Matchball.
Bencic mochte sich nicht daran erinnern, dass sie in den Jahren 2016 und 2017 einmal so stark gespielt hatte. «Das Level war sehr gut.» Und dank dem Sieg eröffnen sich der Achtelfinalistin von 2016 hervorragende Perspektiven. In der 2. Runde trifft sie auf die thailändische Qualifikantin Luksika Kumkhum (WTA 125), als nächste gesetzte Spielerin würde frühestens im Achtelfinal die Deutsche Julia Görges oder die Australierin Daria Gavrilova warten.
Aufmerksame Beobachter beim Coup Bencics waren die Eltern von Roger Federer, die in der Rod Laver Arena in der Box der Weltnummer 78 Platz genommen hatten. Federer selbst hatte ihr vor der Partie noch einige Tipps mit auf den Weg gegeben. «Sich auf jeden Punkt zu fokussieren», verriet Bencic. «Das Spiel geniessen und sich wegen der Sonne keine Sorgen zu machen.»
Wie sehr sich die 20-Jährige von Federer inspirieren lässt, war bereits in Perth zu spüren gewesen. Die Tipps des Baselbieters nimmt sich Bencic zu Herzen, zudem schätzt sie das Tennis und ihr Leben auf der Tour mehr denn je. Sie versucht sich an kleinen Dingen zu erfreuen und sich von der Jagd nach Siegen und Weltranglistenpunkten nicht allzu sehr beeinflussen zu lassen. «Ich will das Ganze mehr geniessen.»
Ihre Gefühlsausbrüche auf dem Platz scheinen weniger geworden zu sein, die Frustrationstoleranz hingegen grösser. Dies ist eine der Fähigkeiten, die sich Federer früh angeeignet hat und zu einem der Schlüssel seiner Karriere geworden ist. Noch schafft es Bencic aber nicht, alle Verhaltensmuster des 19-fachen Siegers an Grand-Slam-Turnieren zu kopieren. «Ich wünschte, ich wäre auch so relaxed auf dem Platz wie er.»