Nichts, das er tut, bleibt unbeobachtet, unbemerkt, unkommentiert. Sich im Rampenlicht zu bewegen, öffentlich gegen die Oberen seines Sports um Rafael Nadal oder Novak Djokovic zu rebellieren, gefällt ihm. Auffallen, und das um jeden Preis – das scheint die Devise von Nick Kyrgios (ATP 43) zu sein.
Seine Frisur ist mit kunstvollen Tribals verziert, Sonnenstrahlen spiegeln sich im Steinchen an seinem linken Ohrläppchen, auf dem linken Unterarm hat er sich den Spruch «Time is Running Out» («Die Zeit läuft ab») tätowieren lassen. Nick Kyrgios ist eine Erscheinung, wie es sie im Gentleman-Sport Tennis nur selten gibt. Doch er ist eben auch einer, der immer wieder aneckt.
Besonders beissend ist die Kritik aus seiner Heimat Australien. Nachdem er einmal eine 2:0-Satzführung verspielt hatte, forderte ihn ein Kolumnist in der Zeitung «The Australian» zum Rücktritt auf, als er schrieb: «Das muss aufhören. Nick, du musst aufhören. In deinem Interesse. In unserem Interesse. Und im Interesse des Tennis.» Aus den Zeilen spricht Zynismus, auch Verzweiflung.
Man ist es leid, dem Hochbegabten dabei zuzusehen, wie er sein Talent verschwendet. Billie Jean King sagte jüngst in Wimbledon: «Er hat mehr Talent in seinen Fingerspitzen als jeder andere. Aber er wird von Dämonen beherrscht, er braucht eine Therapie, denn was er betreibt, ist Selbstsabotage.» Kyrgios sagt dazu: «Es ist nicht schön, aber was soll ich gegen solche Aussagen tun?
Vielleicht würde es helfen, wenn der Australier mit griechisch-malaysischen Wurzeln nicht immer wieder ein provokatives Desinteresse am Sport an den Tag legen würde. In der Startrunde von Wimbledon gab er einen Satz in 18 Minuten mit 0:6 ab und nannte es im Anschluss Taktik. Einmal sagte Kyrgios, er könne sich nicht vorstellen, mit 30 Jahren noch Tennis zu spielen. Und sowieso: Viel lieber wäre er Basketballer.
Man weiss nicht, wie ernst er solche Aussagen meint. Denkt er wirklich so? Oder sagt er es vielleicht doch nur aus Selbstschutz, um innere Zerrissenheit zu kaschieren? Denn jene Menschen, die ihm näher stehen, zeichnen ein weitaus differenzierteres Bild. Sébastien Grosjean zum Beispiel, der eine Weile sein Trainer war. Er sagt: «Nick will Herr über sein Schicksal sein. Es gibt nicht viele wie ihn. Aber am wichtigsten ist: Nick hat ein grosses Herz.»
Mit den Hochbegabten ist es auch so, dass man ihnen doch immer wieder verzeiht. In der Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wendet. Dass Kyrgios das Versprechen einlöst, das er 2014 in Wimbledon abgegeben hatte, als er 19-jährig als Nummer 144 der Welt Rafael Nadal, die Nummer 1, besiegte und die Viertelfinals erreichte.
Nun kreuzen sich ihre Wege in der 2. Runde von Wimbledon wieder. Mit Nadal steht Kyrgios seit Monaten im Konflikt. Auslöser war Kyrgios’ dritter Sieg im sechsten Duell – im Frühling in Acapulco, als er Nadal mit Aufschlägen von unten brüskiert hatte. Nadal sagte danach, Kyrgios mangle es an Respekt: «Vor dem Publikum, dem Gegner und sich selbst.»
Kyrgios konterte, Nadal sei ein schlechter Verlierer und reagiere überempfindlich. «Wenn er gewinnt, ist alles gut und er sagt nichts Schlechtes. Aber wenn ich ihn besiege, heisst es: Er hat keinen Respekt.» Auch Toni Nadal, der Onkel und Ex-Trainer von Rafael, goss Öl ins Feuer, als er sagte, Kyrgios mangle es an Bildung. Der Konter: «Ich ging zwölf Jahre zur Schule, du Idiot. Ich bin sehr gebildet.» Kein Wunder, freut sich Kyrgios auf das Duell.
Er könne es kaum erwarten. «Wenn du ein Kind bist, willst du auf dem grössten Platz gegen die Besten spielen. Zum Beispiel gegen Nadal, über den er aber auch sagt: «Ich würde nicht mit ihm ein Bier trinken gehen.» Nadal sagt indes: «Nick ist ein gefährlicher Gegner und könnte Grand-Slam-Turniere gewinnen. Aber es gibt einen Grund, weshalb er dort steht, wo er steht.» Er wolle keinen Streit auslösen. «Ich bin zu alt für solche Dinge. Mir ist es egal, was Nick aus seinem Leben macht.»
Roger Federer hat Kyrgios immer wieder in Schutz genommen, doch auch er sagt: «Nick macht sich keinen Gefallen, wenn er alle gegen sich aufbringt. Er bewegt sich auf dünnem Eis.» Kyrgios aber sagt, er werde sich niemals ändern. Niemand wisse, ob er mit einer anderen Einstellung mehr Erfolg hätte. Angesichts seines Talents ein Hohn. Zwar ist er erst 24 Jahre alt, doch den Schlüssel zum Erfolg hat er noch nicht gefunden. «Time is Running Out» – irgendwann auch für ihn.
Kyrgios erreicht mit wenig Aufwand viel und es ist seine Entscheidung, ob dies für ihn der richtige Weg ist. Nur weil er sich nicht dem Tennis-Establishment unterwirft, heisst nicht dass er eine Therapie braucht. Aber ja die australische Beziehung zum Tennis ist zur Zeit kompliziert, ich verstehe auch die Aussagen der Journis dort 😅