Marcel Hirscher wird sich nächstes Jahr nicht mehr wettkampfmässig die Rennpisten dieser Welt herunterstürzen. Der österreichische Überflieger hat gestern Abend seinen Rücktritt vom Spitzensport bekanntgegeben.
Das ist zwar verständlich, kaum einer hat mehr gewonnen als der 30-jährige Technikspezialist, – aber auch schade. Der Skizirkus verliert einen absoluten Ausnahmekönner, einen Athleten, der die Grenzen des Möglichen verschoben hat. Doch manch einem Schweizer Ski-Fan wird gestern Abend auch folgender Gedanke durch den Kopf geschlichen sein:
Nein, sind wir nicht. Zumindest nicht, wenn man nur auf die nackten Zahlen schaut. In den acht Jahren in Folge, in denen Hirscher jeweils grosse Kristallkugel für den Gesamtweltcup geholt hat, hätten uns unsere östlichen Nachbarn in der Nationenwertung auch ohne ihren grössten Star abgetrocknet.
Am nächsten kam das Swiss-Ski-Team den ÖSV-Athleten im Winter 2017/18. Damals fehlten «nur» 664 Punkte zum ersten Sieg in der Nationenwertung seit 30 Jahren. Am schlechtesten in der Ära Hirscher war aus Schweizer Sicht die Saison 2012/13, wo man mit über 8000 Punkten Rückstand auf Österreich nur auf Rang 7 landete.
Doch schauen wir uns doch mal an, wie das im kommenden Winter aussehen könnte – Disziplin für Disziplin.
Totale Dominanz der Österreicherinnen! Mit Nicole Schmidhofer, Stephanie Venier und Ramona Siebenhofer beanspruchten drei ÖSV-Frauen die ersten Plätze des letztjährigen Abfahrtsweltcups für sich. Der Schweizerin Corinne Suter ging gegen Ende Saison der Knoten aber so richtig auf (WM-Silber in der Abfahrt, erste Weltcup-Podestplätze). Michelle Gisin sagt, sie sei nach ihrer Knieoperation stärker als je zuvor. Mit Lara Gut-Behrami verfügt die Schweiz zudem über eine weitere Fahrerin, bei der ein Podest immer drin liegt. Österreich hat aber mehr Punktefahrerinnen.
Die Schweiz hat den amtierenden Weltcupsieger in der Person von Beat Feuz. Mauro Caviezel ist auch zum Podestfahrer gereift. Und Marco Odermatt ist das spannendste Skitalent der letzten Jahre, er dürfte immer noch besser werden. Doch auch hier punktet Österreich mit Klasse und Masse. Vincent Kriechmayr kann Feuz jederzeit herausfordern. Auch Max Franz, Otmar Striedinger, Matthias Mayer und Hannes Reichelt punkten regelmässig.
Die frühere Paradedisziplin von Lara Gut-Behrami war letzte Saison eine Schweizer Schwäche. Auch hier darf man gespannt sein, was Michelle Gisin nach ihrer Verletzung zeigt und wie sich Gut-Behrami diesen Winter präsentiert. Auch Wendy Holdener kann im Super-G punkten. Die Schweiz hat zwar insgesamt mehr Athletinnen unter den besten 25, Österreich dank Nicole Schmidhofer und Tamara Tippler aber absolute Spitzenfahrerinnen. Ebenfalls ein Faktor: Überfliegerin Mikaela Shiffrin «klaut» Athletinnen aus beiden Lagern hier schon viele Punkte.
Der Schweiz fehlt es im Super-G an der Breite. Letzten Winter haben nur Mauro Caviezel, Beat Feuz und Marco Odermatt den Sprung unter die besten 25 Fahrer geschafft. Österreich kann auf doppelt so viele regelmässige Punktefahrer zählen. Immerhin: Der beste Schweizer (Mauro Caviezel, 324 Punkte) ist fast gleich gut wie der beste Österreicher (Vincent Kriechmayr, 346 Punkte).
An Mikaela Shiffrin kommen die Schweizerinnen und die Österreicherinnen kaum vorbei. Wendy Holdener war die einzige Schweizerin, die letzte Saison mit der Spitze mithalten konnte. Auch bei den ÖSV-Frauen konnte sich niemand ganz vorne einreihen. Am besten gelang dies Stephanie Brunner, die dieser Jahr allerdings mit einem Kreuzbandriss ausfällt. Doch auch ohne Brunner ist Österreich mit Katharina Liensberger, Ricarda Haaser, Eva-Maria Brem oder der rekonvaleszenten Anna Veith breiter aufgestellt. Gespannt sein darf man aus Schweizer Sicht auf das Comeback von Riesentalent Mélanie Meillard.
Durch Marcel Hirschers Rücktritt fallen dem österreichischen Team 680 Punkte aus der Wertung und sie haben keinen Fahrer, der as wirklich auffangen könnte. Der einzige Fahrer, der es neben Hirscher unter die besten 25 geschafft hat ist Manuel Feller (14, 170 Punkte). Die Schweiz hat mit Loïc Meillard und Marco Odermatt zwei starke, junge Athleten am Start, die noch besser werden. Auch Gino Caviezel oder Thomas Tumler punkten regelmässig.
Wie im Riesenslalom dominiert auch hier Mikaela Shiffrin, die Schweizerinnen und Österreicherinnen müssen sich meist – wenn überhaupt mit zweiten oder dritten Plätzen begnügen. Es ist Wendy Holdeners, der besten Schweizer Punktegarantin, stärkste Disziplin. Michelle Gisin, Mélanie Meillard und Aline Danioth darf man auch starke Resultate zutrauen. Doch auch Österreich mit Bernadette Schild und der Armee von Katharinas (Truppe, Liensberger, Gallhuber und Huber) ist im Slalom stark.
Ohne Marcel Hirscher fallen Österreich hier aus dem letzten Jahr 786 Punkte weg. Mit Marco Schwarz und Manuel Feller haben sie aber immer noch zwei Fahrer, die stets für ein Podest gut sind. Die hat aber auch die Schweiz in Daniel Yule und Ramon Zenhäusern. Grundsätzlich ist es auch im Slalom so, dass Österreich einfach etwas breiter aufgestellt ist.
Erstmals erhalten die Parallel-Events ihre eigene Weltcup-Wertung, je drei Events finden bei den Männern und den Frauen statt. Das ist gut für die Schweiz, hat sie doch mit Wendy Holdener und Ramon Zenhäusern zwei ausgewiesene Parallel-Spezialisten. Aber Achtung: Die Österreicher Marco Schwarz und Michael Matt können diese Disziplin auch.
Entgegen den Erwartungen bleibt die Alpine Kombination weiterhin im Weltcup-Kalender. Insgesamt gibt es sieben Rennen – drei bei den Männern, vier bei den Frauen. Auch das ist eine gute Nachricht für die Schweiz, ist sie doch seit je her eine gute Kombi-Nation.
Wendy Holdener ist zweifache Weltmeisterin in dieser Disziplin, Michelle Gisin ist amtierende Olympiasiegerin. Bei den Männern fährt Mauro Caviezel regelmässig in die vorderen Ränge. Österreich hat dank Marco Schwarz auch einen starken Alleskönner. Bei den Frauen ist die Lage etwas unklarer. Nach dem Ausfall von Stephanie Brunner dürfte Ricarda Haaser einer der grössten Trümpfe sein.
Es bestätigt sich die zu Beginn aufgestellte These, dass die Schweiz nach dem Rücktritt von Marcel Hirscher nicht plötzlich besser ist als Österreich. Allerdings dürfte das Rennen in der Nationenwertung etwas enger werden als auch schon.
Am Ende hängt immer noch sehr viel davon ab, wie die beiden grössen Ski-Nationen vom Verletzungspech verschont bleiben. Grundsätzlich hat die Schweiz in beinahe jeder Disziplin Athleten, die aufs Podest fahren und so viele Punkte holen können. Ähnliches gilt auch für Österreich. Die ÖSV-Truppe überzeugt vor allem durch eine extreme Kaderbreite. Unsere Nachbarn haben derart viele Athleten, die regelmässig punkten, dass es erneut sehr schwer werden wird, an ihnen vorbei zu kommen.