Schon wieder die bösen Russen. Die Anti-Doping-Division des Internationalen Sportgerichtshofs CAS hat ein Verfahren gegen denrussischen Curler Alexander Kruschelnizki eingeleitet. Ihm ist die Einnahme von Meldonium nachgewiesen worden. Er hatte gemeinsam mit Ehefrau Anastassija Brysgalowa im Mixed-Wettbewerb die Bronzemedaille gewonnen – und zuvor das Halbfinale gegen das Schweizer-Doppel Martin Rios und Jenny Perret verloren.
Schande! Teert und federt ihn! Oder vielleicht doch nicht? Halten wir ganz kurz inne und fragen: Was um alles in der Welt bewirkt diese Art von Doping beim Curling? Das ist die Frage, die der gesunde Menschenverstand diktiert. Die Antwort stimmt nachdenklich: Nichts. Die wirkungsvollste verbotene Substanz wäre im Curling der Einsatz von Streusalz.
Meldonium steht auf der Liste der verbotenen Substanzen. So weit, so gut. Aber ist diese Liste eigentlich zweckmässig? Dieses Mittel kam erst am 1. Januar 2016 auf die Liste der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Obwohl es schon seit Jahrzehnten bekannt ist. Es handelt sich um ein Medikament, das gemäss Kennern vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion beinahe so gebräuchlich ist wie Ricola oder Ovomaltine bei uns. In den meisten westlichen Ländern (auch in der Schweiz) wird es im Handel jedoch nicht zugelassen. Gefährliche Nebenwirkungen soll es allerdings, soweit wiederum Fachleute, keine haben.
Macht das alles Sinn? Der gesunde Menschenverstand diktiert nämlich noch eine Frage: Was ist von einer Doping-Behörde (der Wada) zu halten, die weiss, dass die Russen schummeln und dann so naiv ist, ihnen trotzdem das Handling der Dopingproben während der Spiele in Sotschi zu überlassen? Aber andererseits Geld und Zeit investiert, um ein Allerweltsmittel wie Meldonium aufzuspüren? Das wirkt so, wie wenn beim Kampf gegen Steuerbetrug erst einmal Parkbussen verteilt werden.
Der Kampf gegen unerlaubte Substanzen ist aus dem Ruder gelaufen. Das langjährige IOC-Mitglied René Fasel, der Präsident des Internationalen Eishockey-Verbands, hat kürzlich gesagt, man solle Dopingsünder nicht jagen. Man solle sie überführen. Was er damit meint: Wirksame Kontrollen ja, aber ohne Jagdfieber.
Matthias Kamber, der oberste Dopingjäger der Schweiz, sagte im Interview mit dem Onlineportal «Republik»: «Ich bin überzeugt, dass wir in der Schweiz Doping haben. Es ist klar, dass es einzelne Zellen gibt.» Das wirkt befremdend. Solche Aussagen sind erstens imageschädigend und zweitens der Ausdruck von Hilflosigkeit (das Wort Dilettantismus sei vermieden). Es geht bei einer wirkungsvollen Bekämpfung nicht um Überzeugungen. Es geht um Fakten. Um Wissen. Um wasserdichte Beweise. Um juristisch einwandfreie Verfahren. Auch zum Schutz der sehr vielen ehrlichen Sportlerinnen und Sportler.
Überzeugungen haben in diesem Geschäft nichts verloren. Inzwischen gehört es schon fast zum guten Ton, bei grossen Leistungen in einem Nebensatz die Frage zu stellen, ob wohl verbotene Substanzen im Spiel seien. Weil man offenbar überzeugt ist, es gehe nicht mit rechten Dingen zu und her.
Im Kampf gegen unerlaubte Substanzen ist nicht nur viel mehr Geld notwendig. Auch viel mehr kühler Verstand, Sachlichkeit, Professionalität und weniger Eifer und Hysterie. Mehr Konsequenz und weniger Politik. Mehr Unabhängigkeit und weniger Nähe zu den Mächtigen des Sportes und der Politik. Mehr Rechtsgleichheit und weniger Willkür und Kompromisse. Dazu passt, dass immer wieder von verschiedenen Seiten bei Sperren von «lebenslänglich» fabuliert wird. Es sei hier der guten Ordnung halber erwähnt, dass es in den meisten Ländern mit einer funktionierenden Justiz nicht einmal für Mord lebenslänglich gibt.
Vieles ist gut gemeint, aber rührend naiv und nicht umsetzbar. Nur ein Beispiel. Theoretisch ist es sinnvoll, Kontrollen «rund um die Uhr», also auch im Training, zwischen den Wettkämpfen zu machen. Praktisch funktioniert es nicht. Es ist schlichtweg unmöglich, solche Kontrollen in Ländern wie Russland oder China durchzuführen. Einheimische Kontrolleure sind in autoritär regierten Staaten schwerlich zu finden und ausländische Kontrolleure sind hoffnungslos überfordert. Rechtsgleichheit ist nicht gegeben.
Intelligenter wäre die Investition der Arbeitskraft, des Geldes und der Zeit in hochprofessionelle, unabhängige und wirksame Kontrollverfahren bei den Wettkämpfen. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass die meisten grossen Fälle nicht von «Doping-Jägern» aufgedeckt worden sind. Sondern durch Steuerfahnder und Whistleblower.
Die Wada und das IOC haben ihre Hilflosigkeit im Kampf gegen die verbotenen Substanzen bereits lange vor den Spielen in Südkorea mit politisch und juristisch fragwürdigen Methoden überspielt. Die kollektiven Massnahmen gegen Russland, die auch unschuldige Sportler treffen, sind eine Verhöhnung jeder Rechtsauffassung. Der Kompromiss, die Russen unter «neutraler Flagge» und der Bezeichnung «Olympic Athletes from Russia» antreten zu lassen, entspringt letztlich dem schlechten Gewissen über die schludrige Arbeit der Doping-Kontrollinstanzen.
Eigentlich wären ein Marschhalt, eine komplette Reorganisation der Strukturen und eine neue Finanzierung des gesamten Anti-Dopingsystems notwendig. Eigentlich. Es wird nicht passieren. Zu viele leben gut mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Die Herstellung und der Handel mit verbotenen Substanzen ist ein gutes Geschäft. Die Aufdeckung aller Fälle ist nicht im Interesse der Macher des Sportes. Und obendrein lässt sich mit den Doping-Geschichten vortrefflich Politik machen. Beispielsweise gegen die bösen Russen.
Ein Kampf, der, wenn nur alle wollten, zu gewinnen wäre, ist längst verloren. Wir haben es inzwischen mit einem in Teilen verlogenen System zu tun. Ist der Curling-Spieler Alexander Kruschelnizki mehr ein Opfer dieses Systems als ein Täter, der sich mit der Einnahme von verbotenen Substanzen einen Vorteil verschaffen wollte? Wir können auf diese Frage nicht mit gutem Gewissen «Nein!» antworten. Dass er Russe ist, kommt vielen Kreisen gerade recht.