Wie sind helvetische Medaillengewinner? Der «Drei-Medaillen- Tag» bietet eine seltene Gelegenheit, es herauszufinden. Alle drei kommen aus helvetischen Sehnsuchtsregionen: Wendy Holdener aus der Urschweiz, Beat Feuz aus dem Emmental und Dario Cologna aus den fernen, der Sonne zugewandten Bündner Bergen.
Alle drei haben am gleichen Tag eine Medaille gewonnen. Gold (Cologna) und Silber (Feuz, Holdener). Alle drei stellen sich im «House of Switzerland» am gleichen Abend den Chronistinnen und Chronisten. Eine Gelegenheit für einen, der sich im sportlichen Schneegestöber nicht so auskennt wie mit gefrorenem Wasser, für einmal Titanen des Schnees zu erleben.
Dario Cologna (31) ist ein stiller Champion. Freundlich, bescheiden, beinahe scheu und doch selbstbewusst und in sich selbst ruhend. Durch und durch authentisch. Er hätte ohne ein Wort zu sagen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ein Mann der Stille, der viele, viele Kilometer laufen muss bis zum Regenbogen des Ruhmes. Durch verschneite Landschaft, ganz auf sich alleine gestellt. Das prägt eine Persönlichkeit.
Er wird gefragt, wie er die Enttäuschung seines ersten Rennens («nur» 6. im Skiathlon) verarbeitet habe. Es folgen nun keine Sprüche und schon gar keine Ausreden. Mit der Gelassenheit, die ganz grossen Champions eigen ist, schildert er in wenigen Worten seinen vierten Sturmlauf zu Gold. Wie gut er sich gefühlt habe, als er in Führung lag, obwohl er noch nicht an seinen Grenzen gestossen war. Er ist seinen Zweifeln einfach davongelaufen. Ja, sagt er, so könne man es sagen.
Er ist nicht nur den Zweifeln davongelaufen. Er ist in die sportliche Ewigkeit gelaufen: Das vierte Gold im Skilanglauf. In einer der klassischen Disziplinen, die seit Anbeginn der Zeiten (seit 1924) im olympischen Programm stehen. Er ist einer der grössten olympischen Athleten aller Zeiten.
Beat Feuz (31) ist hingegen ein verwegener Kerl. Ein Rennfahrer. Er läuft nicht, er braust, stürzt, rast dem Ruhm entgegen und begibt sich dabei in Gefahr. Sein Wettkampf dauert nur wenige Minuten. Aber es sind intensive Minuten. Die Energie, die Dario Cologna kilometerweit trägt, die muss Beat Feuz in ein paar Minuten entladen. Intensiv, explosiv.
Er hat etwas von einem stillen, sensiblen Rock’n’Roller. Auch er freundlich, bescheiden, sympathisch. Und mit viel Sinn für Ironie. Der Stress an diesem silbernen Tag? Nun ja, die ganze Organisation für die Heimreise. Das Gepäck musste ja noch am gleichen Abend nach Seoul gebracht werden. Er landet bereits am Samstag in Kloten. Und er sagt einen schönen Satz: Er habe jetzt hier Bronze und Silber gewonnen, Gold werde im Juni folgen. Er wird im Juni zum ersten Mal Vater.
Beat Feuz trägt zwei Medaillen um den Hals. Bronze aus der Abfahrt und Silber vom Super-G. Wenn die Scheiben aus Edelmetall gegeneinander schlagen, so klingt es wie das Glockengeläut der Herden bei der Alpabfahrt vom Tannisboden im Schangnau.
Am Schluss wird dem Ur-Emmentaler noch die wichtigste sportliche Frage seiner Heimat gestellt: Schaffen die SCL Tigers die Playoffs? Er sagt: «Nun ja, sie sind zurzeit noch unter dem Strich». Es wird nachgehakt: Schaffen es die Langnauer? Ja oder nein? Da sagt er: «Ja». Nun kann nichts mehr schiefgehen im Lande Gotthelfs.
Nein, der Chronist hat Wendy Holdener nicht vergessen. Ihre Frische, ihre Fröhlichkeit, ihre Freude über ihre erste olympische Medaille wirken ansteckend. Kaum zu glauben, dass sie am gleichen Tag den wohl wichtigsten Wettkampf ihrer bisherigen Karriere durchgestanden hat. Bestzeit im 1. Lauf des Olympia-Slaloms. Gold vor Augen. Immenser Erwartungsdruck. Und sie hat diesen ultimativen Belastungstest bestanden und nur ganz, ganz knapp den Sieg verfehlt. Ganz klar: nicht Gold verloren, Silber gewonnen.
Wer als Chronist meistens mit Mannschaftsportlern zu tun hat, kehrt immer wieder beeindruckt von einem Besuch im Universum der Einzelsportler zurück.
Sagen wir es in einem langen Satz, länger als Dario Colognas Weg zum vierten olympischen Gold: Wer draussen auf der Piste oder in der Loipe auf sich ganz allein gestellt ist, wer sich nicht hinter einem Teamkollegen verstecken kann, wer monatelang trainiert und nur einen Wettkampf von ein paar Minuten hat und in diesen paar Minuten seine beste Leistung abrufen muss, wer sich nicht einen einzigen, winzigen Fehler leisten darf – sonst ist die Trainingsarbeit von Monaten verlorene Mühe – und wer die Gnade nicht kennt, im gleichen Wettkampf einen Fehler wieder gutmachen zu können, oder wer, wie Dario Cologna, in einem Wettkampf alle Energie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt abrufen muss und monatelang auf diesen Zeitpunkt hinarbeitet, entwickelt eine andere Persönlichkeit.
Mannschaftsport erfordert andere Qualitäten. Wer Teamsportler ist, geniesst ein Privileg, das dem Einzelsportler in dieser reinen Form verwehrt bleibt: er ist ein Spieler.
Spielen ist immer auch ein Flirt mit dem Zufall. Individualsport aber ist die Kunst, den Zufall durch Planung und Training zu bändigen. Nur ganz wenige schaffen das. Zwei Schweizern und einer Schweizerin ist es heute gelungen.