Die zehnteilige Dok-Serie «The Last Dance» des US-amerikanischen Sportsenders ESPN und des Streamingdienstes Netflix zeigt einen einmaligen Blick hinter die Kulissen der letzten Saison der Chicago Bulls mit Michael Jordan. Die Bulls sind damals das beste Basketball-Team der Welt und das wohl dominanteste, das die NBA je gesehen hat. Zwischen 1991 und 1998 holt das Team von Trainer Phil Jackson sechs Titel.
Im letzten Jahr – als schon klar war, dass das Team zum Saisonende auseinanderfallen wird – begleitete ein Kamerateam die Bulls auf Schritt und Tritt und so bietet die Doku bisher haufenweise unveröffentlichte Szenen. Die Kamera ist wirklich überall dabei: Bei den Teambesprechungen von Trainer Jackson. An Jordans Füssen, wenn er vom Physio behandelt wird. Vor den Trainings, wenn die Stars im Ferrari vorfahren. Im «Huddle» unmittelbar vor Spielbeginn, wenn sich die Bulls gegenseitig motivieren. In den Gesichtern der Spieler nach Sieg und Niederlage. Bei den unzähligen Interviews mit Jordan im viel zu weiten Anzug.
Bei vielen Sport-Dokus, die ich zuletzt gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass sie gescriptet oder gespielt sind. Nicht so bei «The Last Dance». Wie sonst nur bei der Fussball-Doku «Sunderland 'til I die» kriegt man auch hier das Gefühl, dass wirklich alles echt ist.
Unterstrichen werden die Szenen mit Interviews der wichtigsten Protagonisten. Immer wieder schauen Jordan, aber auch seine einstigen Teamkollegen Scottie Pippen, Dennis Rodman, Horace Grant und Steve Kerr sowie Trainer Phil Jackson zurück auf die Geschehnisse von damals. Auch einstige Gegner wie Isiah Thomas kommen zu Wort.
Logischerweise geht es in der Doku-Serie viel um Basketball, um den Sport und das ganze Drumherum. Aber im Zentrum stehen dabei nicht die Athleten, sondern die Menschen und ihre Charaktere dahinter. Hauptprotagonist ist Michael Jordan, der wohl beste Basketballer der Geschichte.
Eindrücklich wird aufgezeigt, warum sich Jordan von allen anderen abhebt: Nämlich nicht nur durch sein Talent, sondern vor allem durch seine Arbeitsmoral, seine Disziplin, seinen Ehrgeiz und seine Besessenheit, dem Erfolg stets alles – wirklich alles – unterzuordnen.
Als er noch an der University of North Carolina spielt, sagt er: «Niemand wird jemals so hart arbeiten wie ich.» Gross der Schock, als Jordan in seinem ersten Jahr bei den Bulls die Teamkollegen auf dem Hotelzimmer mit Kokain, Marihuana und Frauen ertappt. Damit will er nichts zu tun haben, der junge «MJ» zieht sich zurück. Denn für ihn gibt es nur eine Droge – den Sieg.
Als Jordan merkt, dass er trotz herausragenden individuellen Leistungen keinen Titel gewinnen kann, ordnet er sich auf Anraten von Coach Jackson komplett dem Teamgedanken unter. Als Jordan merkt, dass er mit seinem eher schmächtigen Körperbau gegen die hart spielenden Detroit Pistons nicht bestehen kann, trainiert er sich kurzerhand ein paar Kilo Extra-Muskeln an.
Jordan hat eine unerbittliche Seite und verlangt seinen Mitspielern alles ab. Wenn einer nicht spurt, wird er von «His Airness» zurechtgewiesen, und zwar nicht wirklich auf die feine Art. Die Doku zeigt aber auch Jordans sensible Seite: Nach seinem ersten NBA-Titel 1991 weint er nach sieben Jahren voller Hingabe und Entbehrungen vor Glück.
«Was ist einzigartig an dieser Dynastie?», wird Steve Kerr, damals Shooting Guard bei den Bulls und heute mehrfacher Meistertrainer der Golden State Warriors, in der Doku einmal gefragt. Seine simple Antwort: «Wir haben Michael.»
Dennoch dreht sich «The Last Dance» nicht nur um Jordan allein. Die Serie ist auch deshalb so stark, weil auch Scottie Pippen, Dennis Rodman, Trainer Phil Jackson und General Manager Jerry Krause beleuchtet werden. Schnell wird klar, dass Jordan ohne sie nicht funktioniert hätte. Dass die Bulls nur Erfolg hatten, weil sie als Team funktioniert haben und keine One-Man-Show waren.
Gezeigt wird Pippens Werdegang aus ärmlichen Verhältnissen zum besten zweiten Mann der NBA-Geschichte, der in der letzten Saison zwar aufmüpfig wird, sich dann aber doch eines Besseren besinnt. Gezeigt wird auch das Verständnis, das dem exzentrischen «Bad Boy» Rod Rodman entgegengebracht wird, das dieser trotz aller Eskapaden aber mit Leistung zurückzahlt.
Am eindrücklichsten ist jedoch, wie Phil Jackson diesen Haufen unterschiedlicher Egos zu einer Einheit formt, mit welcher Ruhe er alle Superstars auf eine Linie bringt. Sein spirituelles, von der indianischen Kultur und vom Zen-Buddhismus beeinflusstes Mannschaftskonzept bringt einen nicht für möglich geglaubten Zusammenhalt ins Team. Doch auch taktisch geht Jackson neue Wege, das von ihm perfektionierte Triangle-System dominiert die Liga noch zwei weitere Jahrzehnte.
«The Last Dance» funktioniert auch so gut, weil die Serie einer klassischen Storytelling-Variante folgt – Gut gegen Böse. Die Guten sind natürlich Michael Jordan und die Bulls, Böse gibt es gleich mehrere. Zum einen ist das General Manager Jerry Krause, der schon vor der letzten Saison beschliesst, den Bulls im kommenden Jahr einen Rebuild zu verpassen.
«Es ist mir egal, ob wir diese Saison 82 Spiele gewinnen – danach bist du verdammt nochmal weg», sagt der kleine und übergewichtige Krause, über den sich Jordan und Pippen immer wieder lustig machen, im Sommer 1997 zu Jackson und stellt so sein Ego über alles.
Und dann sind da die Detroit Pistons, die Jordans Bulls Ende der 1980er-Jahre in den Playoffs dreimal in der Serie (1988 bis 1990) vor der Sonne stehen, die wegen ihrer überharten, defensiven Spielweise perfekt zum Bösewicht taugen und nach der verlorenen Playoff-Serie von 1991 den Bulls auch noch den Handschlag verweigern.
Die Sympathien sind in «The Last Dance» schnell verteilt. Obwohl der Ausgang der Playoff-Serien schon klar ist, fiebert man vor dem TV voll mit Jordan und den Bulls mit. Das Konzept geht allerdings fast ein bisschen zu gut auf: Der damalige Pistons-Superstar Isiah Thomas wird seit Ausstrahlung der Serie immer wieder in der Öffentlichkeit angefeindet.
Natürlich ist das jetzt verklärt, aber «The Last Dance» weckt auch wohlige Erinnerungen an die 1990er-Jahre. Die Kommerzialisierung hatte sich damals im Profi-Sport noch nicht so flächendeckend durchgesetzt wie heute, von Internet und Social Media fehlte noch jede Spur. Der Sport stand damals noch etwas mehr im Zentrum, auch wenn gerade die Bulls und Jordan es waren, die das neue Zeitalter einläuteten.
Für die Superstars war das Leben damals sicher einfacher. Heute wird jeder Schritt der Superstars beäugt, überall lauert eine Handy-Kamera, jede Kleinigkeit verbreitet sich in Windeseile über Twitter, Facebook und Instagram.
Zwar kamen auch damals die Eskapaden von Dennis Rodman ans Licht. Der in der Doku thematisierte erlaubte, aber eigenmächtig verlängerte Kurztrip mit Carmen Electra nach Las Vegas wurde schon in den 1990er-Jahren von den Medien breit geschlagen. Aber die Uhren tickten damals noch langsamer. Einer wie Rodman in einem NBA-Team von heute ist in der heutigen aalglatten Sportwelt, wo jedes Skandälchen zum riesengrossen Skandal aufgebauscht wird, schlicht undenkbar.
Aber die Anzüge, die sie damals anhatten... 😂😂😂