Vor dem letzten Länderspiel des Jahres ist die Ausgangslage klar. Ein 1:0, ein 2:1 und jeder Sieg mit mindestens zwei Toren Differenz hilft der Schweizer Nationalmannschaft, um in der Beletage der europäischen Nations League zu bleiben. Da will sie unbedingt hingehören, das ist am Dienstag das erklärte Ziel in Luzern (live auf SRF2 ab 20.45 Uhr) gegen die Ukraine.
Man muss ehrlich sein: Handelte es sich um eine Begegnung ohne Endspielcharakter, sie würde nur wenige interessieren. Die Nationenliga hat auch mit der zweiten Ausgabe ihre Daseinsberechtigung nicht wirklich gefunden. Und natürlich hilft es nicht, wenn der deutsche Weltmeister Toni Kroos den Wettbewerb öffentlich kritisiert, weil die Belastung der Fussballer mehr und mehr zunimmt; der Mittelfeldstar von Real Madrid ist sonst der Mann der leisen Töne.
Die körperliche Unversehrtheit der Profis steht auf dem Prüfstand, gerade in Zeiten von Corona und eines immer enger getakteten Spielplans, der nur der Profitmaximierung dient. Granit Xhaka beispielsweise hat nach vier Wochen Sommerpause seit Ende August bislang 17 Pflichtspiele absolviert mit Arsenal und der Schweiz, die seit Oktober ihrerseits die Kadenz mit zweimal drei Partien innert weniger Tage hochhalten musste. Vladimir Petkovic ist dennoch zuversichtlich, dass die Tanks seiner Schützlinge über genügend Reserven verfügen. «Das Körperliche sollte okay sein», sagt der Nationalcoach.
Vielleicht hatte die Schweiz gerade deshalb in diesem Herbst mit ihrem im Vergleich zu den Topnationen noch immer überschaubaren Reservoir an guten Akteuren zu beissen. Sie brachte sich jedenfalls in Schlussphasen mehrmals um den Lohn und verlor gerade in der Nations League gegen Spanien, Deutschland oder die Ukraine Punkte, ebenso in den Testläufen gegen Belgien und Kroatien; es folgte für die Nationalmannschaft eine Resultatkrise, die statistisch ins schwächste Jahr führt, seit Petkovic nach der WM 2014 übernommen hat. Zuletzt verzeichnete sie 1998 mit sieben sieglosen Begegnungen dieselbe Serie.
Immerhin gaben das 3:3 in Deutschland vor einem Monat und vor allem der jüngste Auftritt voller Leidenschaft und Leidensfähigkeit gegen Spanien (1:1) mehr als nur anerkennenden Beifall. Sodass man sich fragt, wie es dazu kommen konnte, dass die Gunst des Publikums für dieses Nationalteam stets ein wenig kleiner wird.
Corona-Wirren beim Gegner hin oder her: Die Begegnung gegen die Ukraine erhält eine Bedeutungstiefe, die Trainer wie Spieler suchen und erleben müssen, um zu wachsen und letztlich erfolgreich zu sein; keine Testpartie auf der Welt kann diese Tiefe imitieren respektive simulieren. Der Blick zurück auf vergangene kapitale Länderspiele der Schweiz tut denn auch besonders weh und es ist müssig, diese Niederlagen jedes Mal wieder aufzuzählen. Doch in entscheidenden Spielen ist die Schweiz nicht nur an der WM 2014 – unter Trainer Ottmar Hitzfeld – gegen Argentinien gescheitert; Schär, Xhaka, Shaqiri, Mehmedi, Rodriguez und Seferovic standen damals schon auf dem Platz.
Das Team scheiterte auch in der Folge in vergleichbaren Wegweiserspielen: Gegen Polen an der EM 2016 im Achtelfinal; in der WM-Qualifikation 2017, als in der zehnten und letzten Gruppenbegegnung das 0:2 in Portugal folgte; gegen Schweden an der WM 2018, ebenfalls im Achtelfinal. Die Schweizer begleiten diese Niederlagen, und auch wenn sie das nie so sagen, haben sich die Erlebnisse in ihr Gedächtnis eingebrannt. Xherdan Shaqiri sagt: «Das Spiel gegen die Ukraine ist keine EM-Begegnung, und es ist auch nicht damit vergleichbar. Aber wir wollen nicht absteigen und das Jahr mit einem Sieg beenden.»
Vielleicht meint Shaqiri das genauso. Doch es liegt in der Natur der Sache, dass Positives wie Negatives in der Psyche hängen bleibt, Negatives meist noch viel länger. Deshalb geht es gegen die Osteuropäer auch um die Mitnahme eines Gefühls fürs kommende Jahr, das über Sieg, Unentschieden oder Niederlage hinausgeht. Es geht um die Mitnahme der Gewissheit, bestehen zu können.
Dabei hat sich dieses Team durchaus schon von seiner positiven Seite präsentiert. In der Barrage für die WM 2018 bestand es gegen Nordirland, ohne zu überzeugen zwar, aber das gemeinsame Erlebnis als Schicksalsgemeinschaft schweisste über die Endrunde hinaus zusammen. Im Falle eines Abstiegs aus der Nations League wären die Antrittsprämien eine Stufe tiefer im Spätsommer 2022, wenn es zur nächsten Austragung kommt, nur noch 1.5 statt 2.25 Millionen Euro. Doch mit einem positiven Abschluss des Länderspieljahres bekäme Petkovic nachweislich recht, wenn er sagt: «Wir sind uns Entscheidungsspiele gewohnt. Wir sind mental stark in solchen Spielen.»
Die Schweiz verlor im russischen WM-Sommer 2018 gegen Schweden 0:1 nach einem der bedenklichsten Auftritte überhaupt. Die Ukraine spielt ebenfalls in Gelb. Es gilt, dieses «gelbe Trauma» endlich zu überwinden. Für die Zukunft, für die Gewissheit, in der Nähe der Topnationen Europas zu bleiben. Und als Vorbote wie guter Geist, was vielleicht doch möglich sein kann für dieses Schweizer Team. Petkovic sagt: «Es ist eines der wichtigsten Spiele in letzter Zeit. Im Moment zählt aber nur dieses Aufeinandertreffen, vielleicht ziehen wir danach Bilanz.»