Erst streckt er das linke Bein, dann das rechte. Immer wieder auch hält sich Per Mertesacker die Knie. Er scheint sich nicht ganz wohl zu fühlen, sitzend auf einer Bühne in einer Runde am FCB Business and Sports Summit, an dem er am Montagabend zu Gast ist. So unbehaglich es zuweilen aussieht, so auskunftsfreudig ist er dafür nach der Veranstaltung. Mertesacker nimmt sich viel Zeit und zeigt, dass er genau das ist, als was er sich sieht: ein reflektierter, über den Tellerrand schauender, ehemaliger Weltklasse-Fussballer.
Ist der moderne Fussball gefährlich?
Per Mertesacker: Gewisse Entwicklungen im Jugendfussball sehe ich als gefährlich, ja. Wir lassen junge Spieler und Eltern gewissermassen allein und lassen sie im Gefühl, dass Dinge normal sind. So werden Erwartungen geschürt, die im späteren Leben gar keine Relevanz mehr haben. Ich denke dabei an das viele Geld, das schon im Jugendfussball generiert wird, um Spieler im jungen Alter halten zu können. Aber es geht mir auch um kleinere Dinge. Unseren jungen Spielern werden beispielsweise Taxis bereitgestellt, um ins Training zu fahren. In welchem anderen Geschäft der Welt passiert das? Das ist ein Fake-Umfeld, das da geschaffen wird. Das ist es, was ich als gefährlich sehe. Denn am Ende finden nur so wenige im Fussballbereich einen Platz. Wäre dem nicht so, könnte man darüber hinwegschauen.
Sie fuhren noch mit dem Bus ins Training. Missfällt Ihnen die Verhätschelung der Jungprofis?
Ja. Es ist doch wichtig, deinen Weg selber zu finden und selber etwas einzubringen, um einen gewissen Prozess zu durchleben. Sie sollen nachdenken: Wo muss ich mir Dinge selber erarbeiten? Natürlich ist es auch für die Eltern einfacher, wenn der Verein ein Taxi stellt. Aber was bereitet das für die Zukunft vor? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Das sind Entwicklungen, die man genau beleuchten muss. Ich komme aus einer anderen Generation und man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Aber man sollte wirklich probieren, gewisse Dinge zurückzufahren. Manchmal hilft es in diesen Bereichen eben doch, stillzustehen.
Wäre der Per aus Pattensen mit diesen Voraussetzungen klargekommen?
Ich glaube nicht. Deswegen bin ich so froh, dass ich da in einer etwas anderen Umgebung gross geworden bin. Ich musste mir Dinge selber erarbeiten und weiss sie daher zu schätzen. Wertschätzung ist ein ganz grosses Thema. Wenn ich mit Taxis und Geld zugeschmissen werde, ist die Wertschätzung für die kleinen Dinge nicht mehr vorhanden. Deswegen kann ich mir vorstellen, dass ich auch irgendwann hoch geflogen wäre und gedacht hätte, das wäre normal.
Erzählen Sie den Jungs Episoden wie die, in der Ihr Vater bei Ihrer ersten Vertragsverhandlung mit Hannover 96 dafür sorgte, dass Sie 1000 statt 2000 Franken kriegen, Hauptsache Sie dürfen bei den Profis mitspielen?
(Lacht laut.) Das ist ein abstraktes Beispiel, aber es zeigt, wie schnell die Entwicklung geht. Heute reden wir nicht mehr über 1000, sondern über 100 000 Franken oder mehr und darüber, dass Eltern eher mehr als weniger fordern. Das sind diese grossen Unterschiede. Aber natürlich erzähle ich solche Geschichten von mir.
Glauben die Jungs das überhaupt?
Was heisst glauben? Ich versuche einfach mit Beispielen die andere Seite aufzuzeigen. Es wird aber immer schwieriger. An Eltern hängen auch immer Agenten dran, die es damals so noch nicht gab. Die jungen Spieler haben auch immer schon Schuhverträge. Zu meiner Zeit hat man sich einen Schuhvertrag erst verdient, wenn man Nationalspieler war in der ersten Mannschaft. Heute verdient man sich einen, wenn man in der U13 ist. Potenzial wird heutzutage eben bereits bezahlt.
Was kann man dagegen tun?
Wir bei Arsenal in der Akademie versuchen im Moment, etwas zurückzufahren und gewisse Werte zu entwickeln. Ganz aufhalten wird man das aber nicht können. Das ist einfach so. Vielleicht dreht sich das Rad auch irgendwann wieder in die andere Richtung. Das ist mein Gedanke und meine Hoffnung, dass die Leute sehen, dass es für die Ausbildung das Beste ist, wenn man diese Schritte einleitet. Denn Geld schürt falsche Erwartungen. An den nächsten Vertrag oder dass die Eltern aufhören können zu arbeiten, weil der Sohn auf einmal der Hauptverdiener ist. Das sind Entwicklungen, die ich sehr kritisch sehe.
Haben Sie das Gefühl, dass die Fussballblase irgendwann platzt?
Ja, hoffentlich! Wir sind alle verantwortlich dafür, dass man sich irgendwann auf Werte der Ausbildung besinnt. Werte der Persönlichkeitsentwicklung und Werte, die uns für das Leben vorbereiten. Und nicht auf Werte, die uns eigentlich mehr oder weniger auf dieses Fussballgeschäft limitieren. Es wird immer mal wieder die eine oder andere Ausnahme geben, die sich nur auf den Fussball konzentriert und es schafft. Aber es geht um den Rest.
Haben Sie nicht Angst, mit Ihren Ideen nur ein Tropfen auf dem heissen Stein zu sein?
Jugendfussball ist ein extrem langer Prozess. Jahr für Jahr die Früchte von harter Arbeit zu ernten kann extrem lange dauern. Aber ich bin nicht da, um zu sagen: Ich bin morgen wieder weg. Das ist auch eine Verantwortung, die ich mir auferlege, und die ich auch spüre, wenn ich mit Eltern oder Spielern spreche. Da schafft man Verbindungen, die man nicht so schnell über den Haufen wirft.
Sie selber bezeichnen sich als talentfrei. Ihre Biografie trägt den Namen «Weltmeister ohne Talent». Hätten Sie sich jemanden wie sich gewünscht, der Sie richtig fördert?
(Lacht.) Talentfrei beziehe ich auf den Fussballbegriff. Sprich, wenn du nicht vernünftig Fussball spielen konntest, dann warst du talentfrei. Mein grösstes Talent ist, dass ich in Situationen, in denen es wirklich darauf ankam, einfach performen konnte. Beispielsweise als bei einer U17-Trainingseinheit fünf Leute zugeschaut haben, die eine wichtige Funktion hatten, und ich nicht einmal wusste, dass die da waren. Oder als ich zum ersten Mal mit der ersten Mannschaft trainierte, habe einfach abgeliefert. Dasselbe gilt für wichtige Spiele mit der ersten Mannschaft. Das war auf meinem Weg mein grösstes Talent.
Das hat sich ja durchgezogen. Trotz immenser Nervosität vor den Spielen – Sie erzählten von mehrfachen Toilettengängen, unbändigbarem Brechreiz und Augenwasser vor dem Spiel – haben Sie dennoch abgeliefert.
Genau, ja! (Lacht.) Am Spieltag war immer ein komisches Gefühl da. Fünfmal auf Toilette gehen, dieses Gefühl haben, es passiert etwas. Das war ein grosser Druck, den ich persönlich spürte. Das trotzdem rauszulassen und dann noch frei aufspielen zu können, war ein harter Kampf. Aber es hat sich für mich trotzdem im Endeffekt noch gut angefühlt.
Hatten nur Sie solche Probleme?
Nein, aber jeder ist individuell. Einige betrifft es gar nicht, andere gehen auch fünf-, sechsmal auf Toilette und spüren ein Grummeln im Magen. Jeder hat seine Geschichte, die wenigsten sprechen darüber.
Wie bringt man den jungen Spielern bei, über Gefühle zu sprechen?
Keine Ahnung. (Lacht.) Ich versuche einfach, aus meinen Fehlern ein bisschen zu lernen und auch eine Bindung mit den Jungs aufzubauen. Es laufen jetzt aber nicht 50 Leute in mein Büro und fragen: «Wie war es bei dir?» Mir geht es einfach darum, mich zu öffnen und da zu sein, falls irgendwer über etwas sprechen möchte.
Leisten Sie mit Ihrem Konzept des Zurückruderns im Jugendfussball Pionierarbeit oder machen das andere Vereine ähnlich?
Das weiss ich nicht. Vielleicht sagt man bei Arsenal auch in einem Jahr: Das ist mir zu viel, das verursacht zu viel Stress. Dann bin ich auch bereit zu gehen. Weil dann werde ich selbst wahrscheinlich nur krank.
Wollen Sie deshalb nicht, dass Ihre beiden Söhne auf die Akademie gehen und Fussballer werden?
Genau. So wie es sich aktuell darstellt, ist das nicht der richtige Weg. Erst wenn ich eines Tages sagen kann: «Diese Ausbildung ist das Beste für euch fussballerisch, aber auch für eure Persönlichkeit.» Das ist mein Ziel. Da will ich hinkommen.
Sie arbeiten im Jugendbereich, sind aber noch immer nahe an der höchsten englischen Liga. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Premier League?
Wir haben zwei sehr dominante Mannschaften gesehen. Es hat Spass gemacht, da zuzusehen, denn wenigstens gibt es einen Konkurrenzkampf.
In anderen Ländern herrscht seit Jahren gar kein Konkurrenzkampf mehr. Wie ist diese Entwicklung zu stoppen?
Das ist total schwierig. Vor allem wird es für die Zuschauer langweilig, zu Spielen zu gehen, wo es um nichts mehr geht. Da geht sehr, sehr viel verloren. Am Ende muss sich die Liga Gedanken machen, wie sie die Chancen besser auf mehrere Vereine verteilen kann. Wie viele Vereine spielen denn in der Schweiz?
Zehn. Viermal gegen jeden.
Das hört sich jetzt ein bisschen komisch an, aber das System gibt es ja auch schon länger. Trotzdem finde ich es nicht gut, wenn im Februar schon alles entschieden wird. Das macht es dem Zuschauer einfach, nicht ins Stadion zu gehen. Die Champions-League-Halbfinals oder auch der letzte Spieltag in der Premier League haben gezeigt: Wenn es Spitz auf Knopf zugeht, ist der Fussball einfach unschlagbar. Es macht doch viel mehr Spass, wenn die Liga am letzten Spieltag zwei Pokale in zwei Stadien schleppen muss, wie das in England jetzt war, weil noch nicht klar ist, wer ihn am Ende gewinnt.
Viele Berührungspunkte mit dem Schweizer Fussball hatten Sie nicht. Aber an den FC Basel haben Sie eine spezielle Erinnerung.
Habe ich?
Das steht zumindest in Ihrem Buch. Ihr erstes Spiel mit den Profis von Hannover bestritten Sie gegen den FCB.
(Überlegt.) Stimmt. Das war ein Freundschaftsspiel beim Alpencup in Österreich. Wegen eines Nasenbeinbruchs konnte ein Mitspieler nicht spielen und ich durfte ran. Das waren meine ersten Schritte als Profi. Das Spiel wurde sogar im TV auf «DSF» übertragen. Damals stand ich auch zum ersten Mal bei drei Journalisten und durfte sprechen. Darauf wurde ich nie vorbereitet. Ich weiss noch, wie unser Torhüter Gerhard Tremmel dann kam und sagte: «Lass den Jungen doch mal in Ruhe.»
Nach zwanzig Minuten denken sich auch die Journalisten: Dann lassen wir den Jungen jetzt mal in Ruhe. Auch wenn man mit ihm noch stundenlang sprechen könnte. Mertesacker hätte wohl auch mitgemacht. Denn trotz allem, was er erreicht hat, ist er ganz normal geblieben.