Sport
Interview

BVB-Trainer Lucien Favre im Interview vor dem Bundesliga-Start 2020/21

ARCHIVBILD ZUM INTERVIEW MIT LUCIEN FAVRE --- epa08632315 Dortmund's head coach Lucien Favre reacts during the pre-season friendly soccer match between Borussia Dortmund and SC Paderborn in Dortm ...
Lucien Favre blickt zuversichtlich der neuen Saison entgegen.Bild: keystone
Interview

Lucien Favre: «Im Training rede ich 25 Minuten lang ohne Punkt und Komma»

Borussia Dortmund wagt in der Bundesliga eine nächste Verjüngungskur. Der Schweizer Lucien Favre liest die Talente wie nur wenige andere Trainer in der Branche.
10.09.2020, 21:02
Sven Schoch / Keystone-SDA
Mehr «Sport»

Vor seiner dritten Saison mit Borussia Dortmund spricht Lucien Favre über grosse Herausforderungen und englische Wunderknaben. Der 62-jährige Westschweizer geniesst nicht nur bei der nächsten Generation einen erstklassigen Ruf. Auch der renommierten Sportfachzeitschrift «France Football» sind Favres Qualitäten ein Begriff – in einem Ranking der französischen Experten gehört der Dortmunder Ausbildner zu den Top 10 der europäischen Coaching-Branche.

Und doch wird Favre in Deutschland von der medialen Entourage in regelmässigen Abständen angezählt. Favre lässt die Vorwürfe abperlen. Der Mann mit dem besten Liga-Punkteschnitt in der BVB-Geschichte (2,13) entwirft lieber in alter Frische neue Pläne für sein jugendliches Ensemble.

Lucien Favre, Dortmund forciert auf hohem Niveau die Verjüngung. Das Talent Giovanni Reyna haben Sie in der Rückrunde bereits regelmässig eingesetzt. Nun folgt mit dem Engländer Jude Bellingham der nächste 17-Jährige.
Lucien Favre:
Vergessen Sie die anderen nicht, den Brasilianer Reinier, und erst recht nicht Yousouffa Moukoko, der im November 16 wird und erst ab dann für uns spielen darf. Er ist erstaunlich gut für sein Alter, wir werden ihn ganz behutsam entwickeln. Und dann sind da Jadon Sancho und Erling Haaland, auch sie sind noch immer erst 20 und noch längst nicht am Ende ihrer Entwicklung.

Es steckt mehr Jugend in Ihrem Kader als in anderen vergleichbaren europäischen Grossklubs. Ist die Herausforderung für Sie noch grösser?
Wir müssen eine Balance finden. Die älteren Spieler bringen Erfahrung, sorgen für Stabilität und Ruhe. Die Jungen bringen Frische, sie sind lernwillig. Sie sorgen für Bewegung, sie sind formbar. Mir gefällt die Arbeit mit Spielern, welche die Zukunft noch vor sich haben. Aber am Ende geht es natürlich um das sportliche Ergebnis. Wir sind keine geschützte Werkstatt.

Der nächste Sancho? Jude Bellingham ist neu beim BVB.

Sie geniessen den Ruf, einen guten Draht zu Begabten zu finden. Bellingham wird die ersten Schritte ausserhalb seiner Heimat nun ebenfalls unter Ihnen machen. Freuen Sie sich auf einen Rohdiamanten wie ihn?
Klar freue ich mich auf einen Spieler wie ihn. Während der Vorbereitung habe ich ihn bereits besser kennen lernen können. Mir gefällt, wie er mit dem Ball umgeht, wie er ihn auch verteidigen kann. Jude besitzt viele taktische Möglichkeiten und verfügt über eine erstaunliche Präsenz. Er kann als Sechser oder Achter spielen, spielt gute Pässe, sucht den Abschluss. Mit ihm sind verschiedene Systeme möglich. Das alles ist sehr, sehr interessant.

Der Ergebnisdruck in Dortmund ist gross. Und trotzdem fühlt es sich manchmal an, als würden Sie einem Forschungslabor von Jugendlichen vorstehen.
Mich interessiert zuerst vor allem etwas: die Spielintelligenz. Ich schaue bei einem wie Bellingham nicht auf das Geburtsdatum. Er hat die technischen Fertigkeiten, er spürt die Räume. Deshalb fällt es mir auch einfach, mit einem solchen Talent zu arbeiten.

Ein anderer Hochbegabter wird und will auch weiterhin mit Ihnen zusammenarbeiten: Jadon Sancho wechselt (noch) nicht in die Premier League. Haben Sie aufgeatmet?
Wir brauchen ihn, keine Frage. Alle haben sich gefreut, dass er bleibt. Über seine Qualitäten brauchen wir nicht lange reden – sie sind enorm. Er schiesst und bereitet viele Tore vor, kann oft den Unterschied machen. Aber es gibt einige Details, die Sancho verbessern muss. Das ist ganz normal für einen 20-Jährigen.

Sancho erzählte in einem Interview, er sehe sich als einer, der die Jungen führen kann.
Ja, ich habe davon gehört (lacht). Wenn er selbst das Maximum abruft, bin ich bereits zufrieden.

Wie meinen Sie das?
Wir müssen den Jungen Zeit geben. Karrieren hängen von Nuancen ab. Es wird viel gefordert – manchmal zu früh. Drei Spiele innerhalb von sieben Tagen, das ist selbst für einen Arrivierten eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.

Haben Sie generell das Gefühl, dass der Alltag für junge Menschen im Vergleich zur letzten Generation komplexer geworden ist? Die Dauerbeschallung nimmt zu, das Smartphone bestimmt den Rhythmus.
Mir fällt auf, dass sie früher in der Erwachsenenwelt ankommen; weil sie es wollen oder teilweise auch müssen. Nicht nur in Dortmund gibt es viele 17-Jährige. Pelé war zwar auch mit 17 Weltmeister – aber das war damals eine absolute Ausnahme. Die jungen Hoffnungsträger müssen sich unter höherem Druck adaptieren.

epa07393745 Dortmund's head coach Lucien Favre (R) gives advice to Dortmund's Jadon Sancho (L) during the German Bundesliga soccer match between Borussia Dortmund and Bayer Leverkusen in Dor ...
Weiterhin Favres Spieler: Jadon Sancho.Bild: EPA

Sie sind seit Jahrzehnten Trainer und verstehen die Sprache der Jugend nach wie vor. Wie gelingt es Ihnen, den Draht zu den Jüngeren immer wieder zu finden?
Ich komme zurück auf die Spielintelligenz. Zu spüren, wie sich das Spiel entwickelt, zu erahnen, wie die Passwege verlaufen - das sind zeitlose Themen. Da bin ich immer auf dem modernsten Stand.

Ihr Keeper Roman Bürki nannte Ihre ausgesprochen grosse Fairness im direkten Umgang als weiteren Grund für Ihre teaminterne Popularität. Sie seien nie ein Schauspieler, sondern greifbar, normal und höflich.
Man muss ehrlich und höflich sein. Ich erkläre den Spielern die Gründe meiner Entscheide. Meine Ansprachen sind kurz, aber ich nehme mir Zeit, die Akteure individuell abzuholen. Es geht letztlich immer um die Wahrheit. Das ist für mich selbstverständlich.

Kritiker halten Ihnen immer wieder vor, Sie würden in der Coachingzone zu wenig Enthusiasmus entwickeln.
Es bringt mir nichts, laut herumzuschreien. Nach zehn Minuten ist die Stimme weg. Im Training hingegen bei taktischen Übungen rede ich teilweise 25 Minuten lang ohne Punkt und Komma – ohne Publikum, nicht vor TV-Kameras, sondern direkt vor meiner Mannschaft. Ich muss kein Schauspieler sein.

Zwei aufregende Saisons liegen hinter Ihnen, was passiert im dritten Jahr in Dortmund?
Zweimal waren wir die Nummer 2. Eine Prognose ist schwierig. Eines ist aber sicher: Vor uns liegen intensive Wochen, wir pausieren praktisch nie. Wegen Corona ist der Start viel später; im neuen Jahr spielen wir bereits am 2. Januar wieder. Der Terminkalender ist dicht. Bestehen kann nur, wer in seinem Kader auf gute Alternativen zurückgreifen kann.

Fussball Trainer Lucien Favre Dortmund Wolfsburg, 23.05.2020, Fussball Bundesliga, VfL Wolfsburg - Borussia Dortmund Wolfsburg Nur f
Dortmunds Staff geht auf Nummer sicher.Bild: Witters GmbH

Die Pandemie ist nicht verschwunden, sie schränkt unseren Alltag weiterhin ein. Wird das Virus zu einem permanenten Begleiter?
Niemand weiss das. Und ja, es ist immer präsent, täglich. Schwierig ist für mich, dass es uns sozial einschränkt. Die Nähe zwischen den Menschen fällt weg. Wir müssen auf Distanz gehen – auch zu den eigenen Freunden. Im Trainingslager durfte man nicht raus, konnte niemanden ausserhalb der Equipe treffen; schon ein Restaurantbesuch wird kompliziert.

Sie rechnen nicht mit einer Entspannung?
Nein, es wird andauern. Das Virus ist weiterhin da. Wir müssen einen Weg finden, richtig damit umzugehen. Jeder muss die Regeln respektieren. Nur so funktioniert es in der Gesellschaft. Dann wird vielleicht irgendwann die Rückkehr zur Normalität ein Thema.

In der Bundesliga würden Sie die Normalität hingegen gerne durchbrechen. Der FC Bayern hat acht Titel in Serie gewonnen – und vor wenigen Tagen die Champions League.
Sorry, über den FC Bayern müssen wir nicht reden. Bayern ist die beste Mannschaft Europas – mit dem Sieg im Endspiel gegen PSG hat es auch der Letzte gesehen. Entscheidend wird sein, die Realität im Auge zu behalten. Ich sagte es schon in verschiedenen Interviews: Bei der Analyse vieler Journalisten spielt das Potenzial des Kaders keine Rolle. Das ist bedauernswert, denn die Ergebnisse stehen immer in einem Kontext.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die wichtigsten Transfers des Corona-Sommers 2020
1 / 64
Die wichtigsten Transfers des Corona-Sommers 2020
Pajtim Kasami wechselt am Schweizer Deadline Day ablösefrei zum FC Basel. Der Nationalspieler hat einen Vertrag bis Sommer 2022 unterschrieben.
quelle: keystone / jean-christophe bott
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Die watsons im Französisch-Test
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
7 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
vierundzwanzigsieben
10.09.2020 21:37registriert Juli 2016
Mann bin ich gespannt auf Jude. Die Vorbereitung war Hammer. Gio zeigt auch tolle Qualitäten. Hoffen wir, dass sich niemand gröber verletzt, Haaland weiter trifft, Sancho Bock hat, Jude so einschlägt wie ich es erwarte und vielleicht, vielleicht, kann man so die Bayern zumindest etwas ärgern.
678
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bildung & Aufklärung
10.09.2020 22:36registriert Juli 2019
Lucien 'Lulu' Favre, je t'aime.

Guter Mensch, sollte viel mehr davon geben.

Vielleicht hat er "Draht zu Jungen" weil er einfach ein korrekter Mensch ist und auf menschlicher Augenhöhe begegnet, sie nicht als "Junge etc." stempelt. Wer weiss...

Verwundert nicht, dass man ihm "ausgesprochen grosse Fairness" assistiert. Wahre Klasse!

Er liebt Fussball/ die gesamte Taktierung, ist ein perfektionistischer 'Mastermind'.
Mag ihm alles - besonders nach dem bösen Angriff/Foul von Chapuisat Sr., welches seine vielversprechende Spielerkarriere zerstörte - sowas von gönnen!

(*13. 5. 2006*) Ewig.
201
Melden
Zum Kommentar
7
«Experte» Micah Richards macht beim Tippen einen auf Schalke: 0/4
Was du hier findest? Aussergewöhnliche Tore, kuriose Szenen, Memes, Bilder, Videos und alles, das zu gut ist, um es nicht zu zeigen. Lauter Dinge, die wir ohne viele Worte in unseren Sport-Chats mit den Kollegen teilen – und damit auch mit dir. Chat-Futter eben.
Zur Story