Wer in der Schweiz als Fussballfan geboren ist, kann es sich leicht machen. Er wählt den FC Basel. Und ist somit auf der sicheren Seite. Siege in der Endlosschlaufe. Party ohne Ende. Gut, vielleicht geht mal ein Cupfinal verloren. Vielleicht spielt man in Bern mal nur unentschieden. Oder ein als Super-Transfer angekündigter Spieler entpuppt sich nicht als Super-Transfer. Oder man verliert mal gegen Real Madrid oder Paris Saint-Germain. Aber Enttäuschungen verabreicht der FC Basel seinen Anhängern im schlechtesten Fall in homöopathischer Dosis. Stattdessen baden die Basler im Glück. Sexy, oder?
So einfach ist es nicht. Fussball ist nur bedingt kopflastig. Es sind mehrheitlich die Emotionen, die uns steuern. Einverstanden: Die Herkunft spielt eine tragende Rolle. Viele FCZ-Fans findet man in Basel nicht. Auch ist die Chance gross, dass sich ein fussballbegeisterter Ostschweizer zum FC St.Gallen bekennt.
Aber wieso schläft Samuel im Servette-Trikot? Er findet das granatfarbene Leibchen unglaublich cool. Warum ist Michael FCZ-Fan? Er will unser Spiel lenken, wie es Jure Jerkovic beim FCZ tut. Warum ist Roger schlecht drauf, wenn Sion verliert? Sein Vater ist Walliser. Warum verschlingt Markus alles, was über YB geschrieben wird? Er verbringt die Sommerferien im Berner Oberland, besucht mit seinem Vater jeweils den Philipps-Cup und hat ein von Lars Lunde unterschriebenes YB-Shirt. Warum liebt Domenico den FC Turin und nicht wie jeder andere Italiener in unserer Mannschaft Juventus? Weil er gern anders ist, sich zum Aussenseiter hingezogen fühlt. Warum kratzt Martin sein Geld zusammen, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit GC zu sehen? Die Hoppers sind zu dieser Zeit die Nummer eins und Martin findet Heinz Hermann einen lässigen Typen.
Einige meiner Teamkollegen aus Juniorenzeiten sind ihren Klubs bis heute treu geblieben. Andere haben umgeschwenkt. Mussten es tun. Weil ihnen die Klubs die Liebe entzogen haben. Tönt komisch? Mag sein. Aber wenn ein Klub nicht mehr für das steht, wofür er mal gestanden ist, wenn er den Dienstleistungs-Gedanken nicht lebt, wenn er konzept- und ideenlos dahinschippert, wenn er seine Identität verleugnet, wenn er die Tradition missachtet oder wenn er schlecht wirtschaftet und sich deswegen in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet, reisst er dem Fan – überspitzt formuliert – das Herz raus.
Eine neue Fussball-Liebe ist schnell gefunden. Dafür braucht es nicht mal Tinder. Oder die Leidenschaft erlischt ganz. Quasi Fussball-Impotenz.
Der Fussball ist nicht mehr der gleiche wie vor 30 Jahren. Damals war die Fussball-Welt beinahe so eng wie die Leventina. In Basel spielten mehrheitlich Basler. In St.Gallen mehrheitlich Ostschweizer. Fehlende Identifikation existierte im Fussball-Jargon kaum. Und entzückt waren wir bereits, wenn der Meistercup-Final live im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Um Real Madrid zu followen, gab es nur zwei Möglichkeiten: Zeitung lesen oder hinfliegen. Heute können wir im hintersten Loch jede Zuckung von Real live verfolgen. Das bedeutet: Konkurrenz für die Schweizer Fussballklubs, die sich aber dem Vorwurf ausgesetzt sehen, es mangle an Identifikationsfiguren.
Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Muss auch nicht sein. Sich über einen Spieler in einen Klub zu verlieben, wie das früher mit Heinz Hermann und GC oder mit Erni Maissen und dem FC Basel der Fall war, ist kompliziert geworden. Denn bevor die Spieler zu einer Kultfigur, einem Publikumsmagneten werden, kicken sie (mit wenigen Ausnahmen wie Zibung in Luzern oder Wölfli bei YB) im Ausland.
Die Schweizer Fussball-Liga ist ein Durchlauferhitzer. Damit müssen und können wir uns abfinden. Umso entscheidender ist, dass uns unser Klub Orientierungshilfen bietet. Dass wir wissen, was wir an ihm haben, wofür er steht, welche Werte er vertritt. Denn verlieben tun wir uns auch leicht und gerne in ein Image.
In dieser Hinsicht haben einige Schweizer Klubs Defizite. Wofür steht YB? Für maximale Kommerzialisierung gepaart mit minimalem sportlichen Erfolg. Wofür steht Luzern? Für Klamauk und Knatsch in der Teppichetage. Wofür steht Sion? Für einen selbstverliebten Präsidenten und immerhin noch für ein bisschen Cup-Monster, dem aber eben ein Zahn gezogen wurde. Wofür steht GC? Für strukturelles Defizit. Wofür steht St.Gallen? Für Bratwurst ohne Senf. Kurz: Es sind nicht die Spieler, welche die Fans brüskieren, sondern die «Macher» in den Teppichetagen.
Klar, der FC Basel ist durch die Decke. Schwebt über allen. Ein selbstbewusster, authentischer, aber nicht überheblicher Branchenkrösus. Aber der FC Basel kann nicht jedes Fussballherz bedienen. Nicht jeder Mensch fühlt sich durch Erfolg und Perfektion angezogen. Erst recht nicht Fussballfans, die gerne gegen den Mainstream schwimmen. Selbst in der eigenen Stadt gerät der FCB zusehends zwischen die Fronten Kommerzialisierung versus Sozialromantik.
Basels Ex-Präsident Bernhard Heusler ist quasi die Personifizierung der properen, beneidenswert erfolgreichen Basler Fussballwelt. Und er findet zu Recht gut, in welchem Zustand er den FCB übergeben hat. Aber schweift man im Gespräch mit ihm etwas ab, schwelgt er gerne in Erinnerungen an Besuche auf der Winterthurer Schützenwiese, dem Aarauer Brügglifeld oder jüngst im Londoner The Den, wo der unprätentiöse Drittdivisionär Millwall zu Hause ist. Was sagt uns das? Vielleicht, dass der FCB nicht alle Sehnsüchte befriedigen kann. Fussballfans auch dort Zuflucht suchen, wo die Spieler nicht formidabel kicken, das Stadion nicht keimfrei ist, die Spieler auf dem Rasen die Bratwurst riechen und umgekehrt.
Winterthur ist definitiv anders, Aarau auch. Allein mit ihren Flickwerk-Stadien bilden sie einen charmanten Kontrast zur auf Hochglanz polierten Fussballwelt. Eine Zeitreise in die Vergangenheit. Abgesehen vom Stadion und der Ligazugehörigkeit weisen die beiden Klubs aber nicht viele Parallelen auf.
Hier Winterthur, sechstgrösste Stadt der Schweiz. Der Fussballklub links gefärbt. Mit einer hervorragenden Nachwuchsabteilung. Allein im letzten WM-Qualifikationsspiel standen mit Akanji, Zuber, Mehmedi und Freuler vier Spieler für die Schweiz im Einsatz, die in Winterthur ausgebildet worden sind. Aber die erste Mannschaft ist schon beinahe chronisch erfolglos.
Obwohl der FC seit Jahren im Mittelfeld der Challenge League festhängt, funktioniert Fussball in Winterthur. Warum? Weil sich der FCW ideell von der nahe gelegenen Konkurrenz aus Zürich abgrenzt und sich als Alternative zum FCZ und zu GC positioniert. Er hat eine klare Ausrichtung, weil er sein Image als Ausbildungsklub und «St.Pauli der Schweiz» schärft und pflegt. Und weil er sein Stadion, seine Heimpartien zelebriert. Eine Cüpli-Bar, wo Kunst ausgestellt wird. Eine Tribüne «Sirupkurve» nur für Kids. Konzerte nach den Spielen. Fussball auf der Schützenwiese hat Happening-Charakter. Umsonst gibt es aber nichts. Der FC Winterthur genügt sich in seiner Rolle als Aussenseiter. Jedenfalls hat es der Klub bis jetzt noch nicht geschafft, Leistungsdenken und alternative Fussballkultur zu vereinen.
Ein anderer Fall ist der FC Aarau. Eigentlich auch ein cooler Klub mit coolen Fans. Und wie Winterthur eine Pilgerstätte für Fussballromantiker. Doch der Klub unternimmt nichts, um daraus irgendeinen Profit, und sei es nur ein ideeller, zu schlagen. Die Zuschauer kommen aufs Brügglifeld, schauen das Spiel, ziehen wieder ab. Und je schlechter die Darbietungen, desto weniger Zuschauer. Normal? Vielleicht. In Winterthur ist das anders. Weil dort mehr geboten, weil das Stadion mit Leben gefüllt wird, weil die Zuschauer mitgestalten dürfen, weil die Schützenwiese für die Winterthur-Fans wie ein zweites Zuhause ist.
Der FC Aarau hätte beste Voraussetzungen, um sich als sympathische, familiäre Alternative zu den Klubs aus Bern, Basel und Zürich zu positionieren. Aber weder auf dem Rasen noch daneben ist erkennbar, in welche Richtung sich der Klub bewegen will. Es fehlen die griffigen Anhaltspunkte. Es fehlt das klare Konzept, eine Strategie punkto Sport, PR und Eventmanagement. Man spricht zwar davon, vermehrt auf junge Spieler zu setzen (andere Klubs machen das schon lange vor). Aber man verpflichtet einen 28-jährigen Stürmer aus Sion (Leo Itaperuna) und reaktiviert einen 29-jährigen Mittelfeldspieler (Michael Siegfried) – Talentförderung sieht anders aus.
Man bemüht immer wieder das Wort FCA-Familie. Aber Geborgenheit und Kitt beschränken sich wohl auf die Zusammenarbeit mit den Donatoren. Der Schulterschluss mit den KMUs der Region gelingt dem FC Aarau hervorragend. Immerhin. Denn das garantiert eine finanzielle Basis, wie sie in Winterthur nicht existiert. Aber sonst tut der FC Aarau einiges, um den Prozess der Entfremdung voranzutreiben.
Letzte Episode dieses Kapitels: Die «Einsprache gegen die Verwendung des Namens FC Aarau Frauen». Der Imageschaden ist zwar nicht irreparabel. Aber es bedingt grosse Anstrengungen. Nicht materieller Natur. Nein, die Führung des FC Aarau muss sich bei den weichen Faktoren verbessern. Sie fordert von ihren Fans Unterstützung, Vergebung, Respekt, Empathie, ja sogar Liebe. Doch Liebe erhält nur, wer selber bereit ist, Liebe zu geben.