Bevor Xamax nach sechs Jahren Abwesenheit in die Super League zurückkehrte, warnte Michel Decastel: «In der Challenge League haben wir fast immer gewonnen. Jetzt werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass wir wieder häufiger verlieren.»
Decastel ist kein Hellseher, sondern der Trainer der Neuenburger und ein Realist, der nicht zusammenzuckt, wenn er einen Blick auf die Tabelle wirft. Da steht: 10. Xamax. Da kann er auch ablesen: 4 Punkte Rückstand auf Barrageplatz 9. Und: schlechteste Defensive der Liga. Aber nervös werden deswegen? Nicht doch. Decastel sagt: «Wir haben laufend Fortschritte gemacht. Und wenn wir in St.Gallen und gegen die Young Boys etwas holen und uns in der Winterpause auf ein, zwei Positionen verstärken können, sieht es für uns gar nicht so düster aus.»
So passt das zu ihm, zum 63-jährigen Altmeister mit der sonoren Stimme und seiner ihm eigenen Gelassenheit. Ausserdem weiss Decastel, dass die Ausgangslage nicht aussichtslos ist, solange er sich auf seinen erfahrensten Spieler verlassen kann – auf Raphael Nuzzolo. 35-jährig ist er zwar schon, aber das Alter hindert ihn nicht daran, eifrig Skorerpunkte zu sammeln. zehn der 23 Xamax-Tore hat er erzielt, zu acht weiteren hat er die Vorarbeit geleistet.
Als Decastel ein paar Worte über Nuzzolo verlieren soll, ist es einen Moment lang still in der Leitung. Dann sagt er: «Er hat einfach eine hervorragende Nase. Er ist ein kluger Spieler, der da auftaucht, wo es entscheidend ist.» Manchmal erzielt er Treffer, die dem Trainer ein Strahlen ins Gesicht zaubern. So war das am Samstag, als Nuzzolo in Lugano die Kunst des Freistossschiessens zelebrierte, einmal rechts oben traf, dann auch links oben – tief in der Nachspielzeit war er für das wichtige 2:2 besorgt.
Nuzzolo hat vieles richtig gemacht bislang. Er war in der Aufstiegssaison mit 26 Toren bei 34 Einsätzen der überragende Mann, er ist es weiterhin und hat erstmals in seiner Karriere in der Super League mehr als neunmal getroffen. Aber über seine Bilanz kann er sich erst dann richtig freuen, wenn sie gut genug ist, um Xamax zum Ligaerhalt zu verhelfen.
Die Herausforderung besteht also darin, den Kampf gegen die Relegation erfolgreich zu gestalten – einen Kampf, der schon im Sommer prognostiziert worden war. «Für neun von zehn Leuten waren wir Abstiegskandidat Nummer eins», sagt Nuzzolo, der darin aber durchaus auch einen Vorteil erkennt: «Natürlich wollen wir den Erwartungen unserer Fans gerecht werden, aber wir haben nicht den gleichen Druck wie Clubs, die über wesentlich mehr Geld verfügen als wir.»
Für ihn sind die Monate seit Juli ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung eines Vereins, der nach der fatalen Misswirtschaft der tschetschenischen Führung um Bulat Tschagajew Anfang 2012 Konkurs anmelden und einen beschwerlichen Weg zurücklegen musste, um von ganz unten wieder in den Kreis der zehn Besten des Landes zu gelangen. «Wir kennen keinen Luxus», sagt Nuzzolo, «die Strukturen müssen weiter professionalisiert werden.» Und: «Es ist nie angenehm, Spiele zu verlieren. Aber entscheidend ist, dass man aus Niederlagen die richtigen Schlüsse zieht und lernt.»
Nuzzolo bringt seine reiche Erfahrung ein. 2016 kehrte der gebürtige Bieler zum Verein zurück, den er 2011 für ein Angebot der Young Boys verlassen hatte. Er liebt die Region am Neuenburgersee, und er ist dankbar, dass er in seinem Alter mit seinem Xamax noch einmal die Stufe Super League erklommen hat. Sorgen um seinen Platz braucht er sich keine zu machen, er kann es sich erlauben, unter der Woche im Training zuweilen schonend mit seinem Energiehaushalt umzugehen. «Michel Decastel zeigt Verständnis dafür», sagt er, «und ich weiss, was mein Körper braucht, um am Wochenende die maximale Leistung abrufen zu können.»
Anzeichen von Müdigkeit spürt Nuzzolo keine, er verrät vielmehr so etwas wie Angriffslust. «Die Grenze ist noch nicht erreicht, unsere Möglichkeiten sind nicht ausgeschöpft», sagt er. Und: «Es war schon oft so, dass die Rückrunde völlig anders verlaufen ist als die Vorrunde. Überlegen ist in dieser Liga einzig YB.» Vor der Rückrunde aber ist dieser Abstecher nach St.Gallen, und verbunden mit der Reise vom Westen in den Osten des Landes ist die Hoffnung, den dritten Saisonsieg zu erringen: «Hingehen und spielen, ohne an die Tabelle zu denken – vielleicht klappt es so.»