Keine Frage, wer gestern der gefährlichste Spieler auf dem Platz war: Neymar. Der Superstar war der zentrale Mann bei PSG und stellte Atalanta mit seinen Einzelaktionen immer wieder vor grosse Probleme. Dabei stellte er einen Rekord auf: Neymar setzte 16 Mal erfolgreich zum Dribbling an, so oft wie noch kein Spieler zuvor in der Champions-League-Geschichte.
Dennoch wird der Brasilianer nicht ganz zufrieden mit seiner Leistung gewesen sein – denn die Chancenverwertung war alles andere als überragend. Bereits nach wenigen Minuten durfte Neymar alleine auf Atalanta-Goalie Marco Sportiello loslaufen und vergab kläglich, später in der ersten Halbzeit schloss er einen Konter mit einer merkwürdigen Mischung aus Schuss und Pass ab und kurz vor dem Pausenpfiff zimmerte er den Ball nach einem Fehler von Hans Hateboer weit neben das Tor. Man stelle sich vor, PSG hätte das Spiel verloren – Neymar hätte sich einige Vorwürfe machen müssen.
Über 800 Millionen Euro ist das Kader von PSG insgesamt wert – umso erstaunlicher ist es, wie ideenlos die Franzosen bis auf Neymar in der Offensive über weite Strecken blieben. Mauro Icardi? Kaum gesehen. Pablo Sarabia? Unauffällig. Ander Herrera? Ideenlos.
Nach 60 Minuten hatte Thomas Tuchel genug gesehen: Der Deutsche brauchte Kylian Mbappé, den er zu Beginn des Spiels nach dessen Verletzung noch nicht eingesetzt hatte. Und plötzlich kreierte PSG immer mehr Chancen. Mit seinem Tempo lief der Franzose den Atalanta-Verteidigern immer wieder davon. Mit einem seiner Tempovorstösse bereitete der 21-Jährige dann auch das entscheidende 2:1 vor. Einmal mehr wurde deutlich: Mit Mbappé ist PSG ein ganz anderes Kaliber als ohne Mbappé.
In der ersten Halbzeit war die Leistung von Atalanta beeindruckend. Die Italiener spielten wie gewohnt mutig, setzten den Gegner unter Druck und hatten so in der Startphase mehr Chancen. Deshalb ging die Führung nach 45 Minuten absolut in Ordnung.
In der zweiten Halbzeit merkte man aber, wie Bergamo immer mehr die Luft ausging. Die Italiener konnten das Tempo je länger desto weniger mitgehen, ab der 60. Minute beschränkte sich das Team von Gian Piero Gasperini nur noch aufs Verteidigen. Der Wille war da, doch die Beine machten nach der langen Saison offensichtlich nicht mehr mit. Sinnbildlich dafür kehrte der angeschlagene Remo Freuler in der Schlussphase zwar bandagiert auf den Platz zurück, machte seinen Teamkollegen aber deutlich, dass er nicht mehr angespielt werden kann.
Schiedsrichter Anthony Taylor leitete das Spiel zu Beginn so, wie man es von einem Engländer erwartet: Er liess viel durchgehen und die Karten stecken. Bis zur 45. Minute gab es nur eine einzige Verwarnung.
In der Folge warf Taylor seine Regelausrichtung aber etwas über den Haufen: Bis zum Ende des Spiels sahen gleich acht weitere Spieler gelb. Wirkliche Fehlentscheidungen waren nicht dabei, besonders tolerant zeigte sich der Unparteiische allerdings nicht mehr.
Besonders Atalanta bekam dies zu spüren: Gleich sechs Spieler wurden verwarnt, darunter drei von vier der eingesetzten Verteidiger und beide defensiven Mittelfeldspieler. Vor allem Marten de Roon, der Mann im Zentrum, musste sich im Anschluss mehrere Male zurückhalten, um keinen Platzverweis zu riskieren.
Natürlich wäre es eine ganz grosse Geschichte gewesen, wenn das kleine Atalanta das grosse PSG eliminiert hätte und in den Halbfinal eingezogen wäre. Doch die Statistiken zeigen deutlich: Über das ganze Spiel gesehen waren die Franzosen deutlich besser. PSG hatte mehr Schüsse aufs Tor (6:4), deutlich mehr Schüsse allgemein (16:9), mehr Ballbesitz (61%), eine viel bessere Passquote (86%:75%) und hatte mehr erfolgreiche Tacklings als der Underdog (8:2). Am Ende der Partie lag das Verhältnis der zu erwartenden Tore (Expected Goals, xG) bei 3.14 zu 0.45 zu Gunsten der Pariser.
FT: #UCL#Atalanta 1 (0.45 xG)#PSG 2 (3.14 xG)
— Infogol (@InfogolApp) August 12, 2020
An incredible late turnaround from PSG, breaking Atalanta hearts. They couldn't quite hold out a rampant attack which recorded 3.14 xG.#ATAPSG shot map ➡️ https://t.co/CtKQg6W9hX pic.twitter.com/8Q4Hy8tmei
Atalanta versuchte, die immer deutlichere spielerische Unterlegenheit mit mehr zurückgelegten Kilometern (108:105) und deutlich mehr Fouls (29:13) zu kompensieren, schaffte dies aber nicht bis zum Ende. Der PSG-Sieg war also dramatisch, gestohlen aber keinesfalls.
Nach der Übername durch die Milliardäre aus Katar war das Ziel bei PSG klar: Es soll einen Sieg in der Champions League geben. Doch in der Königsklasse taten sich die Franzosen jedes Jahr schwer, über den Viertelfinal kamen sie nie hinaus.
PSG's #UCL record since the QSI takeover in 2011:
— PAPILO😄 (@pap_real) August 13, 2020
12-13: Quarter-final
13-14: Quarter-final
14-15: Quarter-final
15-16: Quarter-final
16-17: Round of 16
17-18: Round of 16
18-19: Round of 16
19-20: Semi-final
Their first time in the last four since 1995. 🤯 pic.twitter.com/y5GElMd5AC
Mit dem Sieg gegen Atalanta erreichte PSG nun einen Meilenstein. Die Franzosen stehen endlich wieder im Halbfinal, zum ersten Mal seit 1995. Damals stürmten die Franzosen, angeführt von Weltklasse-Stürmer George Weah, ohne Gegentor durch die Gruppenphase und eliminierten im Viertelfinal Barcelona. Im Halbfinal war dann aber die AC Milan eine Nummer zu gross – PSG verlor zuhause mit 0:1 und auswärts mit 0:2.
Im UEFA-Protokoll zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs ist klar definiert: «Die Spieler, Trainer und Betreuer auf der Ersatzbank und den technischen Sitzen sind nicht verpflichtet, während des Spiels Gesichtsmasken zu tragen, müssen aber auf ihren Plätzen jederzeit die Abstandsregeln einhalten.»
Bei PSG unternahm man gestern trotzdem den Versuch, die Ersatzspieler mit Masken auszustatten. Aber gut gemeint ist eben nicht gut gemacht. Denn vor Millionen von TV-Zuschauern trugen viele PSG-Spieler die Maske unter der Nase und damit falsch.