Die mediale Dauerüberwachung ist der Albtraum vieler Schweizer Fussballstars. Gleich zu Beginn seines missglückten Kurzabstechers nach Mailand wird Xherdan Shaqiri im Januar von Paparazzi «abgeschossen». Seinen Spaghetti-Plausch mit einer jungen Frau deuten die Gazetten gierig als «Model-Falle». Die Begleiter von Ricardo Rodriguez geraten an Silvester im Zürcher In-Lokal «Hiltl» in eine Schlägerei, ein Festtag für den Boulevard in Deutschland und in der Schweiz.
Solche Probleme hat Carlo Polli mittlerweile nicht mehr. Wer ihn hierzulande kannte, der dürfte ihn längst vergessen haben. Der 26-jährige Tessiner ist Fussballsöldner – fliegt aber gänzlich unter dem Radar. Nicht einmal die Kellnerin schaut auf, als er in der Bar am Bahnhof von Melide zum Gespräch erscheint.
Dabei galt der Mittelfeldspieler lange als eines der grössten Talente südlich des Gotthards. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Mario Gavranovic im Team Ticino ausgebildet, feiert er 2007 als 17-Jähriger sein Profi-Debüt beim FC Lugano. Nach einer Saison lockt der CFC Genoa mit einem Vierjahresvertrag. Mit dem Nachwuchsteam gewinnt Polli die Coppa Italia, bei der ersten Mannschaft sitzt er gegen Juventus auf der Bank. Dann zerstört eine Verletzung den grossen Traum von der Serie A.
Polli erholt sich, tingelt mit Locarno und Chiasso durch die Schweiz. Nach einem Jahr erträgt er die Tristesse nicht mehr: «Ich hatte es satt, in der Challenge League zu spielen. Als Tessiner ist es besonders schwierig, einen Klub aus der Super League auf sich aufmerksam zu machen. Ich wollte mein Leben ändern und neue Erfahrungen machen.»
Als Ausweg wählt Polli wieder das Ausland-Abenteuer, diesmal in exotischeren Ligen. Nach zwei Engagements in Malta ist er soeben vom Amicale FC aus Vanuatu zurückgekehrt. Vanu-was?
Der Zwergstatt im Südpazifik besteht aus einer Gruppe von 83 Inseln und liegt 1750 Kilometer von Australien entfernt. Erst seit 35 Jahren sind die 267'000 Einwohner unabhängig von Frankreich und Grossbritannien. Der Ausländeranteil liegt bei 1,3 Prozent. Wie verschlägt es einen Schweizer Fussball-Abenteurer in diesen entlegenen Winkel der Erde?
Es ist Rijat Shala, ein 31-jähriger Tessiner mit Super-League-Vergangenheit bei GC, der Polli im vergangenen Februar zu sich auf die Insel lotst. Gemeinsam dominieren die beiden Schweizer die Vanuatu Premia Divisen und erringen den Meistertitel. Es folgen Auftritte in der OFC Champions League, der Königsklasse Ozeaniens, und haarsträubende Abenteuer abseits des Platzes.
Eines davon wird Carlo Polli zu Lebzeiten nicht vergessen. Im März steuert der Zyklon «Pam» auf die Inselgruppe zu. Die sturmerprobten Einheimischen bleiben tiefenentspannt: «Wird schon nicht so schlimm, ihr seid nicht in Gefahr.» Eine grobe Fehleinschätzung, wie ein genauer Blick auf die Satellitenbilder zeigt. Der Wirbelsturm ist viel heftiger als erwartet. Knapp fünf Stunden vor dessen Ankunft lässt der italienische Trainer die Mannschaft evakuieren.
Polli erinnert sich: «Wir haben Vanuatu mit dem letzten Flugzeug in Richtung Sydney verlassen. Am Himmel brauten sich die Wolken bereits bedrohlich zusammen. Nach unserer Rückkehr war alles komplett zerstört. Wo vorher paradiesische Palmen und Häuser standen, lag nun alles in Trümmern.»
4000 Menschen macht die Naturkatastrophe obdachlos, elf weitere sterben. Polli und Shala besuchen in der Hauptstadt Port Vila mehrere Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben. Dabei lernen sie eine Lektion für ihr eigenes Leben. Polli erinnert sich: «Das Unglaubliche war, dass sie noch immer glücklich und zufrieden wirkten. Wenn ich vergleiche, wie schlecht gelaunt viele reiche Europäer ständig sind, dann ist das kaum zu fassen. Eine Woche nach dem Unglück standen die Menschen bereits wieder lachend im Stadion. Fussball ist auf Vanuata Religion und die lassen sich die Menschen nicht von der Natur wegnehmen.»
6000 Zuschauer fasst das Amicale-Stadion in Port Vila. Bei wichtigen Spielen quetschen sich aber bis zu 10'000 hinein. Auch die umliegenden Bäume werden dann zu begehrten Plätzen. Doch die immense Fussballbegeisterung hat für das Schweizer Legionärs-Duo auch Schattenseiten. Die meisten Fans in der Hauptstadt tragen den Konkurrenzklub Tafea FC im Herzen. Der wurde 15-mal in Folge Meister, bevor der chinesischstämmige Amicale-Boss Andrew Leong mit seiner teuren Ausländerstrategie die Machtverhältnisse der Liga auf den Kopf gestellt hat. Entsprechend unbeliebt sind die fremden Kicker bei den gegnerischen Fans. Carlo Polli erzählt von einem haarsträubenden Zwischenfall: «Ein argentinischer Teamkollege wurde von Tadea-Anhängern absichtlich mit dem Auto über den Haufen gefahren. Dabei hat er sich den Ellbogen gebrochen.»
Um solche Zwischenfälle zu vermeiden, verbringen die Amicale-Legionäre ihre Tage abgeschottet im traumhaften Holiday-Inn-Ressort des Präsidenten. Dort sind sie in Sicherheit und werden europäisch bekocht.
Einer der sporadischen Ausflüge zu den einheimischen Teamkollegen nimmt für Carlo Polli eine unangenehme Wendung: «Es war eine Art Grillparty. Die Leute tranken ein einheimisches Gebräu, als ob es Wasser wäre. Ich genehmigte mir auch zwei Gläser. Plötzlich hatte ich die wildesten Halluzinationen, dachte ich könne fliegen und sah überall bedrohliche Tiere. Ich wusste nicht, dass es sich bei ‹Cava› um einen psychedelischen Drogentrank handelt.»
Pollis Vertrag in Vanuatu ist mittlerweile ausgelaufen. Dorthin zurückkehren wird er voraussichtlich nicht. Gerade nimmt er sich zuhause im Tessin Zeit für die Familie, sein Vater ist vor wenigen Tagen verstorben. Aber das Fernweh hat Polli schon wieder fest im Griff: «Vielleicht gibt es im Herbst eine Möglichkeit auf den Philippinen. Ansonsten könnte ich auch meinem Trainer aus Vanuatu folgen, der gerade in Australien verhandelt.»
Malta, Vanuatu, und vielleicht bald die Philippinen – das ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem Fussballer-Träume sind. Trauert Polli der verpassten Laufbahn im Spitzenfussball nach? Er verneint: «Als Jugendlicher habe ich von einer Karriere bei grossen Klubs und der europäischen Champions League geträumt. Ich hielt mich selbst für ein Phänomen und konnte schlecht mit Kritik umgehen. Nun bin ich 26 und schaue Tag für Tag. Wichtig ist, dass ich gesund und glücklich bin.»
Mit Europa hat der Tessiner aber abgeschlossen: «Mein Traum hat sich auch so erfüllt: Ich wollte Fussballprofi werden und das bin ich. Ich habe neue Kulturen kennengelernt, bin umsonst um die halbe Welt gereist und als Mensch gewachsen. Wie kann ich da unglücklich sein?»
Für seine Laufbahn hat Carlo Polli bislang auch auf eine stabile Beziehung verzichtet: «Wer so viel reist wie ich, der kann keine Kinder oder eine feste Partnerin haben. Ich bin jung, Single und geniesse das Leben. Für Familie bleibt nach der Karriere noch genügend Zeit.» Dann will er nach seinen Wanderjahren auch endgültig in die Heimat zurückkehren. Für die Zeit nach dem Fussball schwebt Polli eine Gastro-Karriere vor: «Ich kann mir vorstellen, eine Bar oder ein Restaurant in der Nähe von Lugano aufzumachen.»
Vielleicht schliesst sich ja dereinst der Kreis zum Spitzenfussball, wenn Xherdan Shaqiri im Lokal des Tessiner Weltenbummlers sitzt – und von Pasta-Paparazzi abgeschossen wird.
Hat sein Hobby zum Beruf gemacht und bereist die Welt. Was will man mehr?