Er harrt aus. In Kairo. Diesem Moloch von einer Stadt, wo je nach Schätzungen die Einwohnerzahl zwischen 20 und 25 Millionen variiert. Und weil so viele Menschen auf engstem Raum leben, fürchten Experten, dass sich das Coronavirus in Ägypten schnell ausbreiten könnte.
Selbst wenn Moscheen, Kirchen und Schulen geschlossen wurden und ab 19 Uhr eine Ausgangssperre herrscht: Das Gesundheitssystem droht schon im Normalzustand zu kollabieren. Kommt erschwerend dazu, dass im Kampf gegen das Virus Zeit vertrödelt wurde.
Die Regierung sorgte sich wahrscheinlich anfangs mehr um ihren Ruf als um die Folgen der Pandemie. So wurden angeblich auch Journalisten gebüsst, die «Gerüchte und falsche Erklärungen» über eine stärkere Verbreitung des Virus im Land in sozialen Netzwerken verbreitet hatten.
Noch im Februar, als die erste Ansteckung im Land bestätigt wurde, verharmlosten Regierungsvertreter und dem Regime nahestehende Medien die Gefahren. In einer TV-Show wurde das Virus selbst interviewt und verkündet, Ägypter seien immun gegen das Virus. Am 2. April vermeldete die Weltgesundheitsorganisation: 779 bestätigte Corona-Infizierte und 69 Todesfälle. Aber René Weiler, 46, harrt aus.
Als Trainer von Al Ahly, dem grössten Fussballklub Afrikas, gibt es für ihn derzeit weniger zu tun in Kairo. Trainings und Spiele sind ausgesetzt. Das Luxushotel mit den 430 Zimmern, wo er seit seiner Ankunft im September wohnt, hat sich gelehrt. Im Frühstücksraum begegnet er vielleicht noch zehn gestrandeten Managern.
Während das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten Tausende von Schweizern in die Heimat zurückfliegen, bleibt Weiler in Kairo. Während andere Fussballtrainer selbst im Normalmodus jedes noch so kleine Zeitfenster nutzen, um nach Hause zu «fliehen», bleibt Weiler in Kairo. Während seine Frau und die beiden Buben in Zürich den Corona-Alltag bewältigen, bleibt Weiler in Kairo.
Was nicht auf mangelndem Verantwortungsbewusstsein oder Ignoranz oder gründet. Im Gegenteil. Allein, dass er selbst jetzt in Kairo ausharrt, sagt sehr viel aus über diesen speziellen, überaus ehrgeizigen und wissbegierigen Fussballtrainer.
«Logisch wäre ich lieber bei meiner Familie», sagt Weiler. «Doch dieser geht es zum Glück sehr gut und ich habe auch Verantwortung hier. Solange wir nicht wissen, wie die unmittelbare Zukunft aussieht, arbeite ich hier weiter. Beispielsweise an der Entwicklung der Mannschaft, an Trainingsformen und an meinen persönlichen Skills. Zudem lese ich viel, treibe Sport im hoteleigenen Fitnessraum, den ich jetzt praktisch für mich allein habe.» Und er hat viel Zeit, zu sinnieren.
Weiler ist nicht 08/15. Ein Abenteurer und Querdenker, dessen Selbstbewusstsein mindesten so gross ist wie seine Konfliktbereitschaft. Ein Wettkämpfer. Auch oder insbesondere in der Diskussion. Einer, der bei seinen Beurteilungen den Status oder die Verdienste des Gegenübers ausblendet.
Einer, der sich daran stört, dass «Menschen mehrheitlich nur noch das sagen, was andere – vor allem sogenannt Mächtige – hören wollen». Einer, der die «ungeschminkte Wahrheit der tröstenden Lüge bevorzugt». Einer, der sagt: «Verantwortung tragen heisst, das eigene Handeln in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.»
«Leading by example» (als Vorbild voran gehen) sei wichtiger als irgendwelche Abschlüsse oder gewieftes Gerede. Weiler selbst läuft auch mit 46 fast täglich 10 Kilometer in rund 46 Minuten. Ein ehemaliger Mitarbeiter nennt ihn Mentalitätsmonster. Viele mögen sein Tempo nicht mithalten. Dabei ist gerade Leidenschaft ein wichtiger Treiber im Spitzensport.
Weiler kritisiert, dass im Fussball häufig Freund- und Seilschaften den Kompetenzen vorgezogen werden und macht dafür mangelhaftes Qualitätsmanagement verantwortlich. Sowie das viele Geld, welches mögliche, weitreichende Konsequenzen zu vertuschen vermochte. Und er stört sich an den Trittbrettfahrern, die sich im finanzstarken Business einnisten, um mit sogenannt legalen Werkzeugen unlautere Eigenvorteile zu erwirken.
Das System Fussball ist in einigen Bereichen krank, diesen Satz hört man von Weiler schon seit Jahren. Nun sagt er: «Ich bin kein Experte. Aber die Coronakrise führt uns vor Augen, dass in jedem Bereich eine gewisse Regulierung unabdingbar ist. Für den Profifussball wünschte ich mir, dass er ebenfalls gesundet.
Dass bei allen Bestrebungen nach Optimierung auch wieder die Werte-Diskussion geführt wird. Ich wünsche mir, dass Fairplay, das Spiel an sich und die Leistung wieder zu den wichtigsten Parametern werden und nicht die Frage nach Klicks, Followern, astronomischen Summen, manipulierten Stimmen oder dem persönlichen Netzwerk.»
Vielleicht erscheint es auf den ersten Blick widersprüchlich, dass ein Trainer, der so denkt, für Al Ahly Kairo arbeitet. Wenn überhaupt, ist der ägyptische Rekordmeister bei uns dafür bekannt, Mitarbeiter im Schnellverfahren zu entlassen. Seit Mai 2018 ist René Weiler der siebte Trainer. Jeder, der hier einen Vertrag unterschreibt, sollte dies im Bewusstsein tun, dass jeder Tag sein letzter Arbeitstag in Kairo sein kann. Dafür sind die Spielregeln unmissverständlich. Was Weiler goutiert.
Meister muss er werden. Aber das allein reicht auch nicht immer. Bei Al Ahly wurden schon Meistertrainer entlassen, weil sie in der afrikanischen Champions League oder im Cup nicht reüssierten. Weiler jedenfalls ist auf Kurs. In der Meisterschaft hat Al Ahly bei einem Spiel weniger 16 Punkte Vorsprung auf den nächsten Verfolger. Und in der Königsklasse steht man im Halbfinal. Oder: Von 31 Partien unter Weiler hat Al Ahly 25 gewonnen und nur 2 verloren.
Nun, dass er erfolgreich arbeitet, ist nicht neu. Das tat er schon in Aarau, in Nürnberg, und beim RSC Anderlecht. In Luzern und St. Gallen indes wurde er in seinem Vorhaben, eine Leistungskultur zu etablieren, stark eingeschränkt, weil «Kleingeister entweder nicht den Mut zu unpopulären Entscheidungen haben oder ihnen ihr eigenes Ego wichtiger schien als alles andere». Und genau das ist es, was ihn bis heute beschäftigt. Was in ihm das Gefühl des Unverstandenen nährt. Was ihn bisweilen auch dazu verleitet, mit dem Ausstieg aus dem Fussball zu kokettieren.
Aber hier, in Kairo, ist es anders. Hier erwartet man vom «Coach», wie Weiler alle rufen, keine folkloristischen Einlagen wie den Besuch eines Basars. Hier verlangt man nicht, dass er sich unter Fans und Bevölkerung mischt. Hier interessiert es keinen, wie und in welchem Hotel er wohnt und ob und in welchem Wagen er chauffiert wird.
Hier stört es keinen, wenn er lediglich an offiziellen Pressekonferenzen für die ägyptischen Journalisten greifbar ist und dabei alle Statements auf Französisch statt auf Englisch gibt. Hier gibt es keinen Aufstand im Klub oder ausserhalb, wenn er einen verdienten Spieler nicht mehr berücksichtigt. Hier hilft ihm ein guter Draht in die Chefetage nichts. Hier zählt ein vorteilhaftes Netzwerk nichts. Hier zählt nur eine Währung: sportlicher Erfolg. Hat man ihn, ist nichts ein Problem. Hat man ihn nicht, ist vieles ein Problem. So einfach ist das.