95. Minute im Camp Nou. Der eingewechselte Sergi Roberto macht mit seinem Treffer zum 6:1 das Unmögliche doch noch möglich und schiesst den FC Barcelona in letzter Sekunde in den Champions-League-Viertelfinal. Totale Ekstase! In der ausverkauften Arena gibt's kein Halten mehr. Alles liegt sich in den Armen, schreit die unbändige Freude in den Nachthimmel hinaus. Die Geräusch-Kulisse ist ohrenbetäubend. Die Mauern des altehrwürdigen Camp Nou wackeln. Es scheint, als würde die Erde beben.
Wiese scheint? Die Erde bebt tatsächlich. Nur 500 Meter neben dem Stadion befindet sich das Jaume Almera Institute of Earth Sciences, das tatsächlich eine Erschütterung der Erde registrierte. Schon das 2:0 und das 3:0 waren deutlich zu spüren. Beim 6:1 wurde dann sogar ein Erdbeben der Stärke 1 gemessen.
«Das hat es bei einem Fussballspiel zuvor noch nie gegeben», stellte der Wissenschaftler Jordi Díaz gegenüber der «Marca» erstaunt fest. Ein Beben der Stärke 1 auf der Richterskala ist jedoch nicht allzu stark und wird als Mikro-Erdbeben bezeichnet. Von Menschen auf der Erde ist es kaum zu spüren.
Die Rivalität zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid ist schier grenzenlos. So verwunderte es auch nicht, dass in Madrid das späte Barça-Wunder noch missgünstiger betrachtet wurde als in Paris. Der Schuldige war schnell gefunden: Schiedsrichter Deniz Aytekin. Kein Wunder, schliesslich hatte der Unparteiische gleich in mehreren strittigen Szenen für Barcelona entschieden.
Die Real nahe stehende Zeitung «AS» ging deshalb hart mit dem Schiedsrichter ins Gericht. «Aytekin war heute Messi», ärgerte sich Kommentator Tomás Roncero. «Wenn er selbst einen Eckball ins Tor hätte verlängern müssen, hätte er das getan.» Und selbst die wildesten Verschwörungstheorien sind für ihn nicht abwegig. Als «in Stuttgart geborener Türke» könnte Aytekin gewisse Verbindungen zu Turkish Airlines haben, einem Barça-Sponsor.
Kritik an Aytekin gab es aber auch von offizieller Stelle. Wie die «Marca» aus dem Umfeld der UEFA erfahren haben will, könnte das Spiel Konsequenzen für den deutschen Schiri haben. Europas Schiedsrichter-Boss Pierluigi Collina sei gar nicht angetan gewesen von der Leistung des 38-Jährigen und erwäge, ihn in der Champions League vorerst nicht für weitere Spiele zu nominieren.
FIFA-Präsidient Gianni Infantino nutzt Aytekins fragwürdige Schiedsrichter-Leistung für seine Zwecke und wirbt für den Videobeweis. «Ob diese strittige Szene, die zum Elfmeter führte, ein Foul war oder nicht, müssen wir dem Urteil des Schiedsrichters überlassen. Ich habe auf jeden Fall ein unglaubliches Fussballspiel gesehen. Egal wie es am Ende ausgegangen ist», erzählte der Walliser gegenüber Eurosport nach einem Treffen der FIFA-Exekutive in London.
Danach führte Infantino aus: «In Zukunft werden wir hoffentlich einen Video-Assistenten haben, der klare Fehler eines Schiedsrichters korrigiert. Das wird verhindern, dass ein solch wichtiges Spiel wegen eines Schiedsrichter-Fehlers entschieden wird.» Die Einführung des Videobeweises steht seit seinem Amtsantritt weit oben auf Infantinos Prioritäten-Liste. Spätestens an der WM 2018 soll die technologische Schiedsrichter-Hilfe definitiv zum Einsatz kommen.
Vor einem Jahr wurde eine zweijährige Testphase für den sogenannten Video Assistant Referee (VAR) beschlossen. Dieser gibt dem Schiedsrichter die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen noch einmal in einer Wiederholung anzuschauen und zu überprüfen. Erste Tests in Europa, Nord- und Südamerika sind bislang positiv verlaufen.
Eigentlich hat Neymar ja schon im Spiel nachgetreten. In der 65. Minute hätte der spätere Barça-Torschütze zum 4:1 und 5:1 in der 65. Minute nach einem üblen Tritt gegen Marquinhos Rot sehen müssen. Doch der Brasilianer hatte Glück und sah nur Gelb.
Nachgetreten hat Neymar dann später noch einmal. Nach Spielschluss, via Social Media. In einer Instagram-Story machte sich der 25-Jährige über die PSG-Spieler Adrien Rabiot und Laywin Kurzawa lustig. Rabiot hatte nach dem Hinspiel auf Instagram ein Foto veröffentlicht, auf dem er während der Doping-Probe in Anlehnung an den 4:0-Sieg der Pariser vier Finger in die Höhe streckt. Im Hintergrund zeigt Kurzawa das Peace-Zeichen.
Neymar untertitelte das Bild mit: «4+2=6.» Gepaart mit zahlreichen lachenden Smilies erinnerte Barças Angreifer damit an die 6:1-Packung, die zum Aus der Franzosen führte. Ziemlich unnötig!
Denn Neymar hätte das ja gar nicht nötig gehabt, er hatte zuvor die Antwort auf Rabiots Provokation schon auf dem Platz gegeben. Mit zwei Toren und dem Assist zum Siegtor hatte er gar den sonst alles überstrahlenden Lionel Messi in den Schatten gestellt.
Die Trauer in Barcelona hielt sich in Grenzen, als Luis Enrique zwei Wochen nach dem 0:4 in der Champions League gegen den PSG seinen Rücktritt erklärte. In der Königsklasse so gut wie draussen, im Meisterrennen gegenüber Erzrivale Real im Nachteil, immer wieder uninspirierte Leistungen – frischer Wind würde da guttun, war man sich in Barcelona einig.
Nach dem 6:1-Erfolg ist nun plötzlich wieder alles anders. Klubpräsident Josep Maria Bartomeu wird ständig gefragt, ob er den Architekten des Barça-Wunders nicht vielleicht doch zum Rücktritt vom Rücktritt überreden könne. Doch so weit wird es nicht kommen, Enriques Entschluss ist endgültig. Und mit dem Gewinn der Champions League und des Meistertitels könnte er sich in Barcelona endgültig unsterblich machen.
Des einen Freud, des anderen Leid: Für den Nachfolger Enriques wird die Aufgabe durch das Weiterkommen der Katalanen deutlich schwieriger. Eine erfolgreiche Mannschaft zu übernehmen, ist viel komplizierter als eine, die unter den hohen Erwartungen geblieben ist. Wer immer in Luis Enriques Fussstapfen tritt – Ernesto Valverde, Jorge Sampaoli und Eusebio Sacristán sind die heissesten Kandidaten. Es wird schwierig sein, aus dem grossen Schatten des Vorgängers zu treten.