Plötzlich wird Blerim Dzemaili nachdenklich. Er überlegt. Sagt dann: «Zum Glück habe ich damals nicht die Nerven verloren.» Damals, im Juni 2013, als seine Karriere im Nationalteam schon fast vorbei war. Es hat nur wenig gefehlt.
Drei Jahre später ist alles anders. Es ist kurz vor der Europameisterschaft. Und erstmals überhaupt besetzt Blerim Dzemaili in einem grossen Turnier eine wichtige Rolle. «Das tut mir gut», sagt er und lacht. Er musste 30 Jahre alt werden, um diese Worte sagen zu können.
Wenn es darum geht, seinen Weg im Schweizer Dress zu beschreiben, wählt Dzemaili klare Worte. «Ich und die Nationalmannschaft? Diese Liebe ist nie aufgeblüht. Aber wer weiss, vielleicht wird das ja doch noch passieren.»
Bereits 2006 gibt er als 20-Jähriger sein Debüt für die Schweiz. Er ist der Shootingstar des FC Zürich. Führte den Verein zum Meistertitel. Zu diesem Zeitpunkt von Fachleuten klar höher eingestuft als Gökhan Inler. Der Weg scheint vorgezeichnet. Auch Dzemaili weiss das. «Ich hätte der Nachfolger von Johann Vogel werden sollen.»
Es bleibt beim Konjunktiv. Im April 2007 erleidet Dzemaili den karriereweisenden Rückschlag. Im Spitzenspiel mit dem FCZ gegen den FC Basel erleidet er einen Kreuzbandriss. «Diese Verletzung war mein grosses Pech. Sie hat mich in meiner Karriere entscheidend zurückgeworfen. Danach sprangen andere auf den Zug auf.» Einer vor allem: Inler. Er ist es, der im Mittelfeld des Nationalteams die Fäden zieht. Bald auch als Captain.
Nach Jahren treffen sich Dzemaili und Inler wieder. In Neapel. Zusammen mit Valon Behrami kämpfen die drei Schweizer um zwei Plätze. Egal, wie der Trainer heisst: Häufig ist Dzemaili der Überzählige. Auch in der Nationalmannschaft bleibt Dzemaili meist aussen vor. Selbst dann, wenn er im Verein plötzlich die Nasevorn hat.
So geschehen im Frühjahr 2013. In dieser Phase spielt Dzemaili vielleicht den besten Fussball seiner Karriere. Inler sitzt auf der Bank. Und im Nationalteam? Da setzt Ottmar Hitzfeld im Qualifikationsspiel gegen Zypern gleichwohl auf: Inler.
Das war selbst für Dzemaili, den loyalen Kämpfer, der immer ohne Ansprüche ins Nationalteam einrückte, zu viel. «Es hat nur ganz, ganz wenig gefehlt, und ich wäre abgereist», blickt Dzemaili zurück, «entscheidend war mein Agent. Er sagte mir: ‹Du kannst schon abreisen, aber die Schweiz wird dich als Verlierer ansehen. Willst du das wirklich?›» Nein, wollte er nicht. «Wenn ich etwas nie sein wollte, dann das: ein Verlierer.»
Dzemaili kämpft weiter. An der Rolle ändert sich fortan gleichwohl wenig. An der WM in Brasilien steht er weiterhin hinten an. Doch das Schicksal ermöglicht ihm gleichwohl eine entscheidende Rolle. Ausgerechnet im Achtelfinal gegen Argentinien. Sieben Minuten vor Schluss wird Dzemaili eingewechselt. In den Schlusssekunden trifft er per Kopf nur den Pfosten. Der Ball prallt an sein Schienbein – und fliegt neben das Tor. Es sind Bilder, die um die Welt gehen. Und irgendwie eben doch zu ihm passen. Dzemaili, der verhinderte Held.
Nach der WM wechselt er zu Galatasaray Istanbul in die Türkei. So richtig glücklich wird er auch dort nicht. Im Sommer 2015 leiht ihn der FC Genoa aus. Es ist der ersehnte Glücksgriff. Er schwärmt von seinem Trainer, der ihn «so fit wie noch nie» getrimmt hat. Gleichzeitig spürt er im Nationalteam das Vertrauen von Trainer Vladimir Petkovic. Er hält an Dzemaili fest, obwohl dieser seine Chancen nicht immer nutzt.
Blüht die Beziehung zwischen Blerim Dzemaili und der Nationalmannschaft wirklich auf? So gut wie jetzt standen die Chancen noch nie. Nicht nur, aber auch, weil Ex-Captain Inler nach einer Saison quasi ohne Einsatz nicht mehr aufgeboten ist. «Es ist ein schöner Moment für mich. Aber zurücklehnen darf ich mich nicht.» Trainer Petkovic sagt: «Dzemaili hat das Potenzial, noch dominanter zu werden.»
Wenn Dzemaili spricht, dann tut er das überlegt und mit viel Freude im Gesicht. Auch wenn es um Themen geht, die nicht nur angenehm sind. Er sagt: «Früher, da haben sich die Älteren viel zu wichtig genommen.» Mittlerweile habe sich das geändert. «In diesem Nationalteam hat die Hierarchie nicht mehr eine so grosse Bedeutung. Ich habe selten so eine Einheit gesehen wie wir sie jetzt haben.»
Diese Worte stehen ab Samstag auf dem Prüfstand. Dann startet die Schweiz gegen Albanien in ihr EM-Abenteuer. Das Startspiel sei «richtungsweisend», sagt Dzemaili. Er lässt duchblicken, wie viel Respekt das Team vor dieser Aufgabe hat. Und trotzdem: «Ohne Selbstvertrauen geht es nicht. Zuerst müssen wir die Gruppenphase überstehen. Und danach das Herz in die Hand nehmen.»
Nur etwas stört ihn derzeit ein wenig. «Wenn ich sehe, wie die Leute im Ausland alle von der sensationellen Ausbildung und den starken Leistungen des Nationalteams reden und ich dies mit der Stimmung im eigenen Land vergleiche, stimmt mich das etwas nachdenklich.» Die Zeit ist gekommen, um die Leute in der Schweiz umzustimmen.