Die Erinnerungen an die rauschenden Spiele sind noch frisch. St.Gallen, aus dem Nichts zur Vizemeisterschaft gestürmt, war das Wunderland der Super League. Und jetzt, sechs Wochen nach dem Ende dieser Corona-Saison – geht alles einfach immer so weiter?
Die Reise im Wunderland beginnt im Bus, der im grün-weiss des FCSG dekoriert ist. Drinnen sitzt ein Mann mit grün-weisser FCSG-Maske. Zuversichtlich vor der neuen Saison? «Schon, ja. Wir hoffen. Wenn nicht noch mehr passiert…», sagt er. Heisst: Wenn nicht noch mehr Spieler den Verein verlassen. Itten, Demirovic, Hefti – es sind Abgänge, die schmerzen.
Gut zehn Minuten dauert die Fahrt im Bus von Bahnhof zu Stadion. Beim Fanshop herrscht schon frühmorgens ordentlich Betrieb. Zuvorderst hängt das Trikot von Legende Marc Zellweger, einer der Meisterhelden 2000. Auch hier werden die Spieler zum Thema, die den Klub verlassen. «Aber damit müssen wir rechnen», sagt ein Besucher. «Es ist ein Kompliment für den Verein. Wir hatten eine geile Saison, und wenn wir in dieser Art und Weise weiterspielen, dann können wir auch Vierter oder Fünfter werden, kein Problem. Hauptsache wir sehen Herz, Seele und Energie.»
Drinnen im Stadion läuft das Training. Im Fokus, wieder einmal: das Pressing. «Jungs, immer bereit sein!», ruft Trainer Peter Zeidler. 11 gegen 11. Immer vorwärts. Immer Vollgas. Alle. Viele Zweikämpfe. Manch einer liegt am Boden. Mal fallen laute Worte. Mal zerreisst ein Leibchen vor lauter Intensität und Wille. Zeidler guckt zufrieden.
Zurück in die Innenstadt. Im schmucken Innenhof eines Restaurants treffen wir Simea Hefti. Die 17-Jährige spielt bei den Frauen des FC St.Gallen. Gerade ist sie unterwegs mit dem Schweizer U19-Nationalteam.
Tagsüber besucht sie die «United School of Sports». Hefti sagt: «Toll an der Schule ist, dass maximal Rücksicht genommen wird auf den Sport – auch medizinische Termine haben beispielsweise Priorität.» Dafür dauert die KV-Ausbildung vier statt drei Jahre. Irgendwann möchte Simea Hefti Profi werden. So wie ihre Brüder Silvan (22) und Nias (20) das schon seit einiger Zeit sind.
Dass die Heftis, aufgewachsen in Goldach, zur Fussballerfamilie werden, «das war mehr Zufall als wirklich geplant», erzählt Simea. Die Spiele ihrer Brüder verfolgt sie nicht ausnahmslos, aber so viel es geht. Wenn sie letzte Saison ihren Bruder Silvan und den FCSG spielen sah, da dachte ab und an: ‹Was für ein grossartiger Fussball! Dieses Tempo, diese Ballgewinne, diese Chancen.› Im Rückblick sagt sie: «Es war purer Genuss.»
Dass nun Silvan Hefti nach seinem Wechsel zu YB auch einige böse Kommentare einstecken musste, hat natürlich auch Simea Hefti mitgekriegt. «Aber haben sie mich belastet? Nein, ich konnte mich da mühelos raushalten. Es ist schliesslich seine Entscheidung. Ohnehin haben wir uns mehr mit den positiven Reaktionen beschäftigt.»
Nun, die Chancen stehen ziemlich gut, dass Silvan Heftis Weg weiter steil nach oben führt. Und jener des FC St.Gallen? «Irgendwann einmal möchten wir hier einen Titel gewinnen», hat Zeidler Ende Saison gesagt. Kühne Worte. Aber in der Ostschweiz ist nichts auszuschliessen.
Die Farben des Erfolgs? Auch bordeauxrot gehörte in der letzten Spielzeit dazu. Was Servette als Aufsteiger zeigte, war beeindruckend. Warum das so war, wollen wir wissen. Und zucken ob der harschen Worte gleich mal zusammen. «Aufpassen, dass wir nicht absteigen!», ruft John Appenzeller, als wir sein Büro betreten.
Appenzeller ist Präsident des Fanklubs Deutschweizer Servette-Fanklubs «SFCDS 86». Sind die Worte ernstgemeint oder versucht er, mittels Mahnen die eigenen hohen Erwartungen etwas einzudämmen? «Genfer sind halt traditionell ungeduldige Menschen. Jetzt träumen viele von Europa – und davon, bald einmal zur nationalen Spitze aufzuschliessen. Das ist in der Vergangenheit schon mehrfach schief gegangen.»
Recht hat er. Unter Marc Roger gab’s 2005 den Konkurs. Unter Majid Pishyar 2012 einen Beinahe-Konkurs. Und doch sind die Zeichen diesmal anders. Der Verein ist endlich stabil. Die Mannschaft hat seit Jahren ein Gerüst, mit Alain Geiger zudem einen überzeugenden Trainer.
Und schliesslich ist das Philippe Senderos, gerade als neuer Sportdirektor vorgestellt. «Er wird sich beweisen müssen – aber ich traue ihm einen ähnlichen Weg zu wie Christoph Spycher», sagt Appenzeller, «bei ihm hat es ja schon immer geheissen, es sei zu früh – auch als er mit 16 zu Arsenal wechselte.»
Seit der Gründung des Fanklubs 1986 ist Appenzeller dabei, seit anfangs der 90er-Jahre präsidiert er ihn, so genau weiss er das nicht mehr. Sein zweites grosses Hobby neben Servette ist das «Tippkick»-Spiel. Appenzeller ist mehrfacher Schweizer Team-Meister. Der Klubraum des Teams ist praktischerweise auch gleich im Geschäft. Es ist ein faszinierender Raum, Servette-Utensilien und eine Coca-Cola-Sammlung sorgen für eine prächtige Tipp-Kick-Kulisse.
Appenzeller besitzt sämtliche Servette-Trikots seit der Saison 1974, nun hofft er, wegen Corona doch auch ab und zu an Auswärtsspiele gehen zu können. «So wirklich Klarheit herrscht ja noch nicht. Wohin darf ich denn als Zürcher mit Servette-Herz reisen? Nur nach Genf? Nur nach Zürich? Überall? Überhaupt nirgendwohin? Ich würde sagen: Alles offen.»
Das ist wohl auch für seinen Verein in dieser Saison so ziemlich zutreffend.
Der FC Lugano surft auf einer Welle. Von den letzten neun Pflichtspielen haben die Tessiner keines verloren. Darauf ist ihr Trainer Maurizio Jacobacci ziemlich stolz. Darf er auch sein. Weder er noch sein FC Lugano haben einen Stammplatz auf der Sonnenseite des Fussballgeschäfts.
57 Jahre alt ist Jacobacci. Als Trainer kommt er bisher erst auf 48 Super-League-Spiele. Er musste also lange um Anerkennung kämpfen, etliche Saisons als Zusatzschlaufe in unteren Ligen drehen, ehe man ihn als gut genug befand. Vielleicht betont er darum einmal mehr als andere Trainer, dass vor allem dank Spielerwechseln die Wende realisiert werden konnte. Egal. Jacobacci ist deswegen nicht eitler als andere Trainer, die weniger Erfolg haben als er.
Er kann durchaus stolz drauf sein, wie er Lugano aus der Abstiegsnot geführt und der Klub nach dem Restart zu beeindruckender Konstanz gefunden hat. Dabei sind die Arbeitsbedingungen im Tessin nicht die besten. Allein die seit Jahren kursierende Geschichte um den Verkauf des Klubs kann in der Belegschaft für Verunsicherung sorgen.
Denn die Frage lautet nicht mehr, ob Präsident und Mehrheitsaktionär Angelo Renzetti verkaufen wird, sondern nur noch wem und wann. Die Vergangenheit lehrt: Neue Eigentümer installieren neues Personal. «Es wird bei uns keinen zweiten Fall GC geben», ist Jacobacci überzeugt. «Sicher, Renzetti sucht seit Jahren Investoren. Er will den FC Lugano nicht mehr allein stemmen. Aber er will weiterhin operativ führen. Das gibt uns Sicherheit. Aber vielleicht hat er deshalb noch keinen Partner gefunden.»
Weil die Finanzierung ein ewiger Kampf ist, will Renzetti unbedingt den einen oder anderen Leistungsträger noch verkaufen. Torhüter Noam Baumann, obwohl derzeit verletzt, und der österreichische Mittelfeldspieler Sandi Lovric werden auf dem Markt angeboten. Jacobacci jedenfalls geht nicht davon aus, dass seine Equipe im November noch das gleiche Gesicht haben wird wie heute.
«Obwohl es schwieriger geworden ist, Spieler zu platzieren, weil es überall an Geld fehlt.» Und er rechnet auch nicht damit, dass jeder Franken aus dem Transfergeschäft in die Mannschaft reinvestiert wird. «Es geht auch darum, die Löcher zu stopfen, die durch die Coronakrise entstanden sind», sagt er ohne Groll.
Sowieso vermittelt Jacobacci den Eindruck eines zufriedenen, reflektierten Trainers. Er polemisiert nicht, weil sein unbefristeter Vertrag nur für ein Jahr in einen befristeten umgewandelt worden ist. Er hadert nicht, dass dem FC Lugano nicht die Aufmerksamkeit zuteilwird, die er verdiente.
Und er identifiziert sich vollumfänglich mit dem unprätentiösen Saisonziel Klassenerhalt. Vielleicht liegt es daran, dass der Lebenspartner von Ilona Hug den Kontakt zu seinen beiden – in Bellinzona wohnhaften – erwachsenen Kindern und den drei Enkelkindern intensivieren kann. Vielleicht aber auch daran, dass er nun endlich auch als Trainer seine Duftmarke in der Super League hinterlassen kann.