Ohne dreist zu lügen, kann man das Anfield Stadium im Jahr 2014 nicht mehr als «State of the Art» bezeichnen. Während sich Architekten mit Hang zum Grössenwahn rund um den Globus gegenseitig mit neuen Fussball-Tempeln überbieten, sieht man der Schüssel in Merseyside ihre 130 Jahre und diverse Schönheits-Operationen mehr als deutlich an. Schon nach dem Spiel gegen den FCB steht wieder ein dringender Eingriff auf dem Programm. Die Haupttribüne wird renoviert und um 8250 Plätze ausgebaut.
Dennoch bleibt der Mythos ungebrochen – und das aus gutem Grund. Als Besucher bekommt man hier vermutlich mehr Historie vermittelt als ein durchschnittlicher Gymnasiast während acht Jahren Geschichtsunterricht. Die Gedenkstätte für die Opfer der Hillsborough-Katastrophe und der sagenumwobene Spielertunnel mit der furchteinflössenden Inschrift «This is Anfield» sind nur die bekanntesten Stationen. Dieses Stadion schwitzt Fussball-Geschichte aus jeder einzelnen seiner verkalkten Poren.
Und bei dieser Betrachtung sind die Fans noch gar nicht berücksichtigt. Die Gegner, welche sich vom traditionellen «You'll Never Walk Alone» aus 45'000 Kehlen noch nicht beeindrucken lassen, werden von «The Kop» in die Mangel genommen. Die Tribüne der Hardcore-Fans hinter dem südwestlichen Tor gilt als eine der leidenschaftlichsten in ganz Europa.
Deshalb appelliert Liverpools walisischer Mittelfeld-Mann Joe Allen vor dem Showdown gegen den FCB ganz besonders an die Fans: «Ihre Unterstützung wird ein entscheidender Faktor sein. Wir rufen alle Liverpool-Anhänger dazu auf, Basel gemeinsam mit uns eine schwierige Nacht zu bereiten.»
Also, schlottern Basel vor dem Höllenritt in diesem Kessel schon die Knie? Ganz im Gegenteil. Captain Marco Streller kann es kaum erwarten: «Ich habe noch nie in diesem Stadion gespielt und freue mich auf meine Premiere. Die Vorfreude ist riesig und wenn wir das Spiel erfolgreich gestalten, dann wird es eines der grössten Highlights meiner Karriere. Dafür werden wir kämpfen bis zum Umfallen und 90 Minuten dagegenhalten.»
Irgendwie hat es ja schon fast Tradition – Manchester United, Chelsea und auch Liverpool haben es bereits vorgemacht: Da kommt der kleine FC Basel, der sich gegen Teams von der Insel seit Jahren glänzend schlägt, aber so richtig ernst nehmen die englischen Kolosse den Schweizer Zwergklub trotzdem nie. Und nachdem sie dann geschlagen sind, gucken die Briten aus der Wäsche, als ob ihnen gerade jemand ihre «Fish and Chips» gemopst hätte.
Dieses Mal soll alles anders werden, zumindest wenn es nach Liverpool-Coach Brendan Rodgers geht: «Wir respektieren Basel, Paulo Sousa hat dort einen hervorragenden Job gemacht. Gefragt sind Geduld und Konzentration. Wir müssen das Spiel nicht in den ersten Minuten gewinnen, wir müssen es einfach gewinnen.»
Auch Liverpools 1,68-Meter-Mann Joe Allen hat das 0:1 im St.Jakob-Park noch nicht vergessen: «In Basel wurde uns eine Lektion erteilt, deshalb werden wir sie garantiert nicht unterschätzen. Trotzdem können wir zuhause drei Punkte holen und in die nächste Runde einziehen. Dessen waren wir uns schon bei der Auslosung sicher – und daran hat sich nichts geändert.» Nun ja, wir werden sehen.
Nun, es gibt gewisse Anlaufschwierigkeiten. Basels Aussenverteidiger, der von 2008 bis 2011 bei den «Reds» im Sold stand und dabei wegen zahlreicher Verletzungen nur sieben Premier-League-Einsätze absolvierte, hat sich bei der Rückkehr an die Anfield Road glatt verlaufen.
Degen schildert sein Missgeschick: «Ich bin ich vor lauter ‹Hallo-sagen› einfach an der Gästekabine vorbei in Richtung Liverpool-Umkleide gelaufen. Es ist sehr speziell für mich. Man fühlt hier sofort wieder die grosse Tradition, welche in diesem Klub steckt. Ich freue mich wahnsinnig auf dieses Spiel, das legendäre ‹You'll Never Walk Alone› und das Wiedersehen mit den Fans.»
Weil Liverpool angesichts der tristen Gegenwart ungefähr so sehr in der Vergangenheit lebt wie ein Autofahrer, der bis heute eine Spice-Girls-CD im Radio stecken hat. Das grosse Thema vor dem Showdown in der Gruppe B ist in den englischen Medien nämlich weniger der FC Basel, sondern das Jubiläum von Steven Gerrards Hammerkiste gegen Olympiakos Piräus im Jahr 2004.
Vor exakt zehn Jahren hat Liverpool im letzten Gruppenspiel gegen die Griechen dank Gerrard in der Nachspielzeit den Kopf aus der Schlinge gezogen und sich anschliessend den Kübel gekrallt. Das waren noch Zeiten!
Aber auch beim FC Basel ist der Respekt vor dem 34-jährigen Altmeister ungebrochen. Philipp Degen erzählt: «Für mich ist Gerrard immer noch die grosse Figur der Mannschaft. Er ist der Chef auf und neben dem Platz. Schon während meiner Zeit bei Liverpool war er der Mann, zu dem man hinaufgeschaut hat. Wenn man Probleme oder Fragen hatte, dann kam die Antwort immer von ihm.»
Liverpool-Coach Brendan Rodgers hingegen, will die Last gleichmässiger verteilen: «Stevie ist einer der ganz wenigen Weltklasse-Spieler, aber wir dürfen nicht die ganze Verantwortung auf seine Schultern laden. Es braucht gegen Basel einen Effort der ganzen Mannschaft, um diese Mission zu erfüllen. Die Zeit ist reif für neue Helden.»
Dem FC Basel genügt bekanntlich ein Unentschieden für die Achtelfinal-Qualifikation und einen weiteren warmen Millionen-Regen. Wie gross ist da die Versuchung, sich als Underdog an der Anfield Road einfach einzuigeln? Gering bis nicht vorhanden, wenn es nach Paulo Sousa geht: «Unter meiner Führung werden die Jungs immer nach vorne spielen. Das ist meine Vorstellung von Fussball, die ich an die Mannschaft weitergebe. Wir haben einen Plan und der ist immer darauf ausgerichtet, das Spiel zu gewinnen.»
Auch Marco Streller ist von dieser Taktik überzeugt: «Sie werden kommen wie die Feuerwehr, aber wir werden deshalb nicht hinten reinstehen. Das ist nicht unsere Philosophie! Wir werden sehen, was sie uns geben – und wenn sich die Chance dazu bietet, dann schlagen wir eiskalt zu.»
Im Showdown zwischen Liverpool und Basel hat sich Real-Trainer Carlo Ancelotti öffentlich auf die Seite des Schweizer Meisters geschlagen. Nach dem Mini-Sieg im St.Jakob-Park am vergangenen Spieltag gibt der Italiener zu Protokoll: «Ich sehe im letzten Spiel einen kleinen Vorteil beim FC Basel. Ich denke, dass sie derzeit stärker sind als Liverpool.»
Auf dieses Statement angesprochen, gibt sich Brendan Rodgers ungläubig: «Hat er das wirklich gesagt? Na, das werden wir ja sehen. Ich hoffe, dass er unrecht behält.»
Und der Liverpool-Coach kontert sogleich: «Basel hat bisher alle Auswärtsspiele verloren. Es ist ein Spiel um alles oder nichts. Das ist eine Chance für uns, nicht eine Bedrohung. Wenn wir die Qualifikation für die nächste Runde schaffen, dann können wir in den kommenden Monaten ruhiger arbeiten und diesen Erfolg auch auf die Meisterschaft übertragen.» Das gilt allerdings auch für den FC Basel.