Weit über 10'000 Menschen nehmen am Engadin Skimarathon teil. Die einen fit, die anderen weniger. Auch am Start ist Erika Kälin, bei der aber nicht die Fitness im Zentrum steht. Das Besondere an ihr: Sie ist praktisch blind. Kälin kam mit einer sehr seltenen Augen-Fehlbildung auf die Welt. Für eine Operation musste eigens ein Arzt aus den Vereinigten Staaten eingeflogen werden.
Um einen sportlichen Vergleich zu ziehen: Ihre Sicht sei etwa so, wie wenn Normalsehende in der Nacht langlaufen müssten, weshalb sie am alljährlichen Nachtlauf in ihrer Heimat Einsiedeln regelmässig auf das Podest läuft. «Die Leute sind dann schon verwundert, dabei haben sie da einfach die gleichen Voraussetzungen wie ich», sagt sie.
Kälin, die wie der Engadiner Jahrgang 1969 trägt, lässt sich von ihrer optischen Einschränkung kein bisschen zurückbinden. Neben dem Langlauf umfasst ihr Repertoire auch Klettern, Skifahren, Nordic Walking, Bergläufe und Triathlon – und auch im Turnverein ist sie aktiv. Sie selbst führt das auf ihre Kämpfernatur zurück. Als Bauerntochter aufgewachsen sei sie als Kind im Sommer immer mit auf die Alp und dort im Gelände rauf und runter. «So habe ich ein sehr gutes Gleichgewicht entwickelt und gelernt, meine Sicht mit dem Gefühl zu kompensieren.»
Den Sport sieht sie als Bereicherung, den sie trotz der Umstände nicht missen möchte. Kälin sagt: «Sport ist gut für das Selbstvertrauen. So kann ich etwas bewegen und zeigen, dass ich auch ein Mensch bin.» Und wie! 1999 erreichte sie das Ziel am Engadiner in 2:04:34,0 (147. Gesamtrang), was angesichts ihrer Behinderung einer Weltklasse-Leistung gleichkommt.
Um die Zeit geht es ihr kommenden Sonntag nicht, dennoch ist es für sie selbstverständlich, dass sie zum 22. Mal in Serie in Maloja am Start stehen wird. Mit dabei auch ihr Partner Reinhart Schütz, seit sieben Jahren ihr Guide – «ihr Auge», wie er sagt. Keine einfache Aufgabe, insbesondere am Engadiner mit so vielen Mitathleten.
«Das ist schon eine Challenge», sagt Schütz, der mit Kälin mit simplen Kommandos kommuniziert und sie so auch jeweils durch den gefürchteten Stazerwald manövriert. Vereinfacht wird das seitens der Organisatoren dadurch, dass das Tandem Kälin/Schütz bereits am Schluss der Elite C starten darf und so von guten Loipenbedingungen profitiert. Für den Guide habe das wiederum zur Folge, dass es sich während dem Rennen aufgrund der schnelleren Konkurrenten manchmal anfühle «wie ein Lastwagen auf einer Formel-1-Strecke».
Trotz der Vielzahl an Teilnahmen ist Kälin bisher jedes Mal ohne drastische Zwischenfälle durchgekommen. Wohl wurde sie schon umgefahren oder von einem Stock im Gesicht getroffen, aber am meisten gelitten hat sie, als sie einmal ihre Brille während dem Lauf verloren hat. Da war sie «fix und fertig im Ziel – und schneeblind», wie sie sagt.
Dem Engadiner-OK winden Kälin und Schütz ein Kränzchen. Alles laufe so gut ab, dass sie den Anlass anderen Behinderten (letztes Jahr waren lediglich drei am Start) gerne ans Herz legen würden. Besonders ins Schwärmen geraten sie vom Zugang ins Maloja Palace vor dem Start und dem dortigen Kontakt mit den «Giubilers», den jubilierenden Teilnehmern, die den Traditionslauf mindestens 40 Mal absolviert haben. «Die nehmen einem die Angst vor dem Altwerden», sagt Kälin.
Auch wenn sie den Engadiner noch so lange laufen will, wie es geht, blickt Kälin aktuell nicht so weit in die Zukunft. Der Grund dafür ist derselbe, wieso sie auch den diesjährigen Marathon nur als «Training» bezeichnet. Danach geht es weiter nach Österreich, wo in Ramsau kommende Woche die Langlaufwettbewerbe der World Winter Games stattfinden, der Olympischen Spiele für Behinderte (nicht zu verwechseln mit den Paralympics).
Für ihre erste Teilnahme hat sich die 48-Jährige einiges vorgenommen. Über 10 km in der von ihr favorisierten Skatingtechnik will sie «bei den Besten dabei sein». Doch erst einmal gilt es noch die 42 Kilometer von Maloja nach S-chanf zu absolvieren. Kontrolliert und ohne Zeitdruck – aber als Inspiration für sämtliche andere Athleten.