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Zum ersten Mal kam ich 1986 nach Moskau. Zur Hockey-WM. Die Schweizer hatten kurz vorher unter Simon Schenk mit dem Aufstieg in die A-WM die Rückkehr in die Weltklasse geschafft. Es ist die Morgenröte eines neuen Hockeyzeitalters – und es ist das Abendrot der Sowjetunion. Beides – die soeben erfolgte Rückkehr der Schweiz unter die Grossen des Hockeys scheint noch unwirklich und den Untergang der UdSSR und des Kommunismus kann sich niemand vorstellen.
Moskau ist 1986 eine fast gespenstisch verkehrsarme Grossstadt. Die Taxifahrer liefern sich am Abend auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum auf den leeren Strassen halsbrecherische Rennen. Es gilt, die magische Zeit von einer halben Stunde zu unterbieten. Es ist ein Wahnsinn. Das Taxi gibt es draussen im Flughafen nur auf Zuteilung mit einem Voucher.
Das Hotel hat die romantische Schäbigkeit des Sozialismus, den seltsamen Geruch von Desinfektionsmitteln, auf jeder Etage eine mürrische Aufpasserin (damit keiner mit weiblicher Begleitung ins Zimmer schleicht) und draussen vor dem Hotel schöne Studentinnen, die von einem jungen Mann aus dem Westen gerne etwas über die Kultur des Westens erfahren möchten. Ich lerne Sewa Kukuschkin kennen. Er ist Übersetzer und Hockey-Chronist.
Moskau ist auch die Hauptstadt einer Ideologie. Des Kommunismus. Oder besser: des Sozialismus, der drauf und dran ist, den Kommunismus zu verwirklichen. So lerne ich das bei einer geführten Tour durch die Stadt. Ein deutscher Tourist moniert, es sei ja ungeheuerlich, dass man hier jahrelang auf ein Auto warten müsse und dafür mehr als 20 Monatslöhne bezahlen müsse. Die kluge, schöne Reiseleiterin kontert: «Dafür kostet die Miete fast nichts. Und wie oft zahlen Sie Miete und wie oft kaufen Sie in Ihrem Leben ein Auto?»
Draussen vor der Stadt, in der Nähe des Flughafens steht ein grosses Denkmal. «Bis hier ist der faschistische Feind vorgedrungen, bis er von der heldenhaften Roten Armee gestoppt worden ist», erklärt die Reiseleiterin mit einem wundersam singenden Akzent. Hinten im Bus grölt einer: «Lüge, Hetzpropaganda. Nur der Sprit ist uns ausgegangen.» Betretenes Schweigen bis zur Rückkehr zum Hotel.
1986 dominieren die Sowjets unter Kulttrainer Wiktor Tichonow die WM auf begeisternde Art und Weise. Niemand ahnt, dass es das letzte Mal ist, dass die Sowjets vor eigenem Publikum ein Titelturnier gewinnen. Und niemand kann sich vorstellen, dass die Stars (wie Fetisow, Larionow, Makarow, Kasatanow, Bykow, Chomutow) je im Westen, in der Schweiz oder gar in der NHL spielen könnten. Vier Jahre später tanzen Chomutow und Bykow für Gottéron und Titanen wie Fetisow werden später den Stanley Cup gewinnen.
1986 verspielen die Finnen im letzten Spiel durch zwei Gegentreffer in den letzten zwei Minuten gegen Schweden die erste Medaille ihrer Geschichte. Aber bereits ist es die Morgenröte des finnischen Hockeys: Zwei Jahre später bei den Olympischen Spielen in Calgary werden sie ihre erste Medaille (Silber) gewinnen, 1995 sind sie zum ersten Mal Weltmeister.
Die Nachrichtenlage von 1986 ist heute unvorstellbar. Während der WM im April brennt der Atomreaktor in Tschernobyl durch. Wir erfahren in Moskau nichts. Die finnischen Kollegen bekommen aus der Heimat Anfragen: In Helsinki sei ein Anstieg der Radioaktivität gemessen worden. Es müsse in Russland ein Atomunglück gegeben haben. Es ist ein unheimliches Schweigen vor Ort. Die Berichte hacke ich in einer Schreibmaschine, gebe das Manuskript am Schalter im Medienzentrum ab und dort wird es per rasselndem Telex in die Schweiz übermittelt. Telefonverbindungen gibt es nur über Voranmeldung.
Gut 20 Jahre später zieht der WM-Zirkus 2007 wieder nach Moskau. In eine andere Welt. Die Stadt vibriert, rockt in einem hitzigen Kapitalismus. Nun dauert die Fahrt vom Flughafen ins Zentrum nicht mehr eine halbe Stunde. Sie dauert auf komplett verstopften Strassen fast drei Stunden. Die Reichen bahnen sich mit Blaulicht eine Gasse. Moskau ist eine kalte, unfreundliche Stadt geworden. Für Ideologie interessiert sich niemand mehr und es gibt längst keine Stadtrundfahrten mehr mit Belehrungen über das sozialistische System. Die schönen Studentinnen warten jetzt nicht mehr vor dem Hotel. Sie flanieren durch die Lobby.
Nach der Auflösung der UdSSR (1991) hat sich das russische Eishockey zwar dramatisch verändert und die «Sbornaja» hat seit ihrem letzten Titel (1993) nur noch einmal Silber (2002) und einmal Bronze (2006) geholt.
Aber die Verehrung im Land ist geblieben, Stars wie Igor Larionow oder Wjatscheslaw Fetisow geniessen inzwischen den Ruf von Freiheitskämpfern gegen das alte Regime. Und die Hockey-Apparatschiks haben sich die meisten in die neue Zeit hinüberretten können. Sie brauchten lediglich mehr Revolver und Bodyguards, um die Kriegskassen zu verteidigen und sich in den Machtkämpfen untereinander zu behaupten.
Der kluge Sewa Kukuschkin, der schon 1972 als Übersetzer mit der Nationalmannschaft unterwegs war, weiss, warum das Eishockey in seinem Ansehen beim Volk nie gelitten hatte. «Anders als die Politiker mussten wir nie lügen. Wenn der Puck im Netz ist, dann ist Tor. Unabhängig davon, ob man Kommunist oder Kapitalist ist.» Sewa Kukuschkin kann wunderbare Geschichten aus der Geschichte erzählen. Sein Vater arbeitete einst für Stalins Aussenminister Molotow.
2007 zeigt sich eine sportliche Morgenröte fürs russische Hockey. Unter Nationaltrainer Slawa Bykow holen die Russen Bronze, ein Jahr später werden sie in Kanada erstmals seit 1993 wieder Weltmeister und sie verteidigen diesen Titel 2009 in der Schweiz. Sewa Kukuschkin ist immer noch da. Und die Geschichten, die er zu erzählen hat, sind so gut wie eh und je.
Und nun also 2016. Russlands Hockey hat seine Ehre auch mit Titeln 2012 und 2014 längst wiedergefunden. Die Spieler geben sich patriotisch und selbstverständlich kommt Alex Owetschkin nach dem Ausscheiden mit Washington zur WM. Die Chance, Weltmeister werden zu können, ist so etwas wie ein ewiger Trostpreis für einen charismatischen Weltstar, der noch nie Stanley-Cup-Sieger war.
Moskau hat sich verändert. Der Verkehr staut sich noch immer wie 2007. Aber Moskau ist jetzt die Hauptstadt eines Landes, das sich nach den Erschütterungen der letzten 30 Jahre wieder als Weltmacht versteht und von einem neuen Patriotismus beseelt ist.
Die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Sieg über Nazi-Deutschland sind noch prächtiger, lärmiger als 1986. Damals schaute ich mit einem kanadischen Kollegen bei den Proben zu und ein riesiger Laster mit Raketen kam nicht die leichte Steigung zum Roten Platz hinauf. Es war eine Hektik und ein Gefluche, bis alles wieder in Gang kam. Und wir sagen noch im Scherz, eine Weltmacht, die nicht einmal verlässliche Lastwagen bauen könne, sei doch keine militärische Bedrohung für Amerika. Fünf Jahre später existierte die UdSSR nicht mehr.
Der hitzige Kapitalismus von 2007 ist 2016 pragmatischer geworden. Die Menschen haben sich an die neuen sozialen Unterschiede (oder besser: schreienden Ungerechtigkeiten) gewöhnt, der Sozialismus ist beinahe vergessen und dank dem schwachen Rubelkurs ist Moskau mit Schweizer Franken günstiger als Zürich. Moskau ist beinahe eine normale Stadt geworden. Die schönen angeblichen Studentinnen sind jetzt überall in der Stadt anzutreffen.
Moskau ist das Wirtschaftszentrum eines riesigen Landes. Mit Hochhäusern, Luxushotels und einem Lebens-Tempo wie in einer westlichen Metropole auch. Es ist auch nicht mehr die Hauptstadt einer Ideologie wie 1986. Moskau könnte auch eine Stadt in den USA sein – einfach eine mit etwas weniger gut ausgebauten Autobahnen und einer prächtigen U-Bahn. Sewa Kukuschkin ist nach wie vor da. Rüstig wie eh und je. Mit interessanten Geschichten wie eh und je. Und ich denke: Er ist ein alter Mann geworden und halte erschrocken inne. Ich bin ja gar nicht soooo viel jünger als er.
Nur eines ist noch genauso wie 1986. Moskau ist nicht Russland. Moskau hat mit dem richtigen Russland so wenig zu tun wie die Zürcher Bahnhofstrasse mit dem Emmental. Russland, das ewige Russland, das unendliche Russland hinter dem Ural, wo der Himmel die einzige Limite ist, verändert sich nicht. Ob Kommunismus oder Kapitalismus, die Seele Russlands bleibt gleich, die Zeit steht still. Aber das habe ich nicht in Moskau gespürt und gelernt, sondern auf den unendlichen Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Peking in den alten Zeiten und von Peking nach Moskau in den neuen Zeiten im besten Wortsinne erfahren. Und aus den Erzählungen von Sewa Kukuschkin gehört.