Ach, es wäre so schön gewesen. Nur 43 Sekunden fehlten für den Halbfinal. Um zu zeigen, wie schmal der Grat zwischen Triumph und sportlicher Tragödie sein kann und wie gut die Schweizer bei dieser WM und in diesem Viertelfinal-Drama waren, machen wir hier kurz ein Gedankenspiel. Nach dem Motto: Was wäre wenn?
Also; hätten wir gewonnen, so wäre hier nun zu lesen:
«Unser Eishockey, unser Sieg, unser Halbfinal: Die Schweiz besiegt in einer der besten WM-Partien der Neuzeit Deutschland. Die Deutschen waren zu weich und zu langsam.
WM-Viertelfinal gegen Deutschland. Die Erwartungen sind maximal. Ein Sieg wird erwartet. Aber keine Spur von Nervosität. So selbstsicher, so cool, so gelassen sind die Schweizer unter maximaler Belastung noch nicht oft aufgetreten.
Nur in den ersten 10 Minuten, gegen Ende des 2. Drittels und ganz am Schluss sind die Deutschen dazu in der Lage, den Schweizern das Spiel aufzuzwingen. Es rumpelt ein wenig. Aber viel zu wenig. Selbst in diesen heiklen, besten Phasen der Deutschen sind die Schweizer härter. Sie biegen sich ein wenig unter dem teutonischen Druck. Aber sie sind weit davon entfernt, einzubrechen.
Am Ende dürfen wir sagen: Wir, die mit den Deutschen tanzten. Es ist unser Hockey gespielt worden und wir sind den Deutschen davongelaufen. Und in den Momenten härteren Widerstandes sind die Schweizer robust und diszipliniert: keine einzige Strafe. Die Deutschen waren nicht nur zu langsam. Sie waren auch zu weich – und das hat es in der Neuzeit in einem WM-Spiel noch nicht gegeben.»
Aber so ist es eben nicht gekommen. Die Schweizer waren tatsächlich cool, gelassen und diszipliniert. Und schneller und im Grunde härter als die Deutschen. Timo Meier war sogar der härteste Mann der Partie und er sollte der einzige sein, der bei der Penalty-Entscheidung treffen sollte.
Und doch haben wir verloren. Eishockey ist, wenn am Ende doch Deutschland gewinnt. Wie im WM-Viertelfinal von 2010 (0:1). Wie im olympischen Achtelfinale von 2018 (1:2 n.V). Und nun ist es eine Penalty-Niederlage (2:3). In allen Varianten haben uns die Deutschen dreimal hintereinander gedemütigt.
Wer böse gesinnt ist, sagt jetzt, hinterher, wenn alles klar ist: Es war Leichtsinn. Es war Hybris. Das Wort Hybris steht für Übermut oder sogar Hochmut, für Überschätzen der eigenen Möglichkeiten.
So kann man es mit boshaftem Gemüt sehen und sagen: Die Schweizer waren nach dem 2:0 leichtsinnig. Sie haben zu wenig entschlossen den dritten Treffer gesucht. Man weiss doch, dass es im Eishockey nicht möglich ist, einen Vorsprung zu verwalten und über die Zeit zu schaukeln. Sie haben eine goldene Möglichkeit zum 2:0 zu einem noch früheren Zeitpunkt im einzigen Powerplay des Spiels vergeben – mit dem statistisch besten Überzahlspiel der WM. Und sie waren in der letzten Minute zu wenig entschlossen.
Aber das ist eine ungerechte, unfaire Beurteilung. Patrick Fischer und seine Jungs haben alles richtig gemacht. Aber wenn sich etwas nicht programmieren, kontrollieren lässt, ist es dieses unberechenbare Spiel auf einer rutschigen Unterlage.
Wenn der Gegner den Torhüter vom Eis nimmt, alles auf eine Karte setzt, mit Leidenschaft und grimmiger Entschlossenheit ein Tor sucht – dann kann «es» passieren. Und um ein Klischee zu bemühen (man möge es dem Chronisten verzeihen): Wenn Deutsche im Sport alles auf eine Karte setzen, dann ist die Wahrscheinlichkeit noch höher, dass «es» passiert. 43 Sekunden vor Schluss fällt der Ausgleich zum 2:2.
Das spielerisch und taktisch beste WM-Team seit der Rückkehr auf die höchste WM-Stufe (1998) ist gescheitert. Am besten können wir dieses bittere Ausscheiden mit einem Beispiel aus dem Fussball erklären: Erinnern Sie sich an die Fussball-WM 1982? An die brillanten, leichtfüssigen Brasilianer, die durch die Gruppenphase tanzten? An das vielleicht spielerisch beste WM-Team der Geschichte? Und dann scheiterten sie im Viertelfinal an der Effizienz der Italiener (2:3). Ein Kritiker nannte die Südamerikaner «abstürzende Vögelchen».
Die Schweizer waren in Riga nicht «abstürzende Vögelchen». Sie waren «abstürzende Adler». Dieses Scheitern ist ganz einfach einer Laune der Hockey-Götter geschuldet. Kritik an Patrick Fischer oder einem einzigen seiner Spieler wäre boshaft. Wer es denn nicht lassen kann, kritisch zu sein, kann geradeso gut behaupten, wir hätten gewonnen, wenn Patrick Fischer seine Rockstar-Frisur zu einem Pferdeschwanz gebändigt hätte. Das wäre fachlich ungefähr gleich fundiert wie jede Kritik an der Taktik oder am Auftreten seiner Spieler.
Es ist ein Scheitern, das weh tut. Aber es ist ein Scheitern, das keine Konsequenzen nach sich zieht. Wir müssen nichts ändern. Wir brauchen nur ein bisschen mehr Glück.
Als Trostpreis für das frühe Scheitern bleibt uns die Ehre, nun die Dramakönige des Welteishockeys zu sein. Mit Patrick Fischer scheiterten wir im olympischen Achtelfinale 2018 gegen Deutschland in der Verlängerung (1:2). Bei der WM 2018 verloren wir den Final gegen Schweden nach Penaltys (2:3). Bei der WM 2019 fehlten uns zum Sieg im Viertelfinal gegen Kanada 0,04 Sekunden und wir verloren in der Verlängerung. Und nun im Viertelfinal 2021 erneut eine Penalty-Niederlage.
Nur grosse Mannschaften scheitern so dramatisch. Kleine Mannschaften scheitern kläglich. Ein grosses Schweizer WM-Team ist dramatisch gescheitert. Das grösste seit 1998.