Eishockey gehört zur DNA der Bündner Kultur. Der Kanton Graubünden ist ohne Eishockey gar nicht denkbar – und unser Eishockey nicht ohne den Kanton Graubünden, ohne den HC Davos und ohne den Spengler Cup.
Ein Blick zurück hilft uns, die Gegenwart zu verstehen. Der HC Davos wird in den 1920er und 1930er Jahren der erste helvetische Klub mit Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus. Die Nationalmannschaft, praktisch identisch mit dem HCD, holt 1926 den EM-Titel, 1928 Olympia-Bronze und 1935 WM-Silber. Der Spengler Cup, 1923 zum ersten Mal ausgetragen, wird ein sportlicher Leuchtturm in einem vom Krieg noch zerrissenen Europa.
Geld spielt während diesen goldenen Jahren der Sportromantik keine Rolle. Entscheidend sind die natürlichen Voraussetzungen. Und die könnten in Davos nicht besser sein.
Davos ist bereits zu Beginn der 1900er Jahre die Welthauptstadt des Eissportes. Im berühmten Reiseführer von Dr. Ernst Lechner aus dem Jahre 1914 lesen wir: «Das Eislaufen ist ein zwei bis drei Wochen dauerndes Volksfest, es wird auf prachtvoller Bahn um die Europa- oder Weltmeisterschaft gelaufen, und dazu treffen Sportsleute und Zuschauer von England, Holland, Deutschland etc. ein.»
Aus dieser Eislaufkultur entwickelt sich bei perfekten natürlichen Voraussetzungen in den 1920er Jahren das Eishockey.
Kunsteisbahnen gibt es im Unterland noch nicht. Die Bündner beherrschen dank ihrer geographischen Lage mit dem HC Davos und dem EHC Arosa das Schweizer Eishockey bis in die späten 1950er Jahre. Zwischen 1926 und 1958 gewinnen sie mit Ausnahme der Jahre 1936 und 1949 alle Meisterschaften. Sie haben die Unterstützung aus dem Unterland so wenig notwendig wie die Bergbauern.
Die einzigen Herausforderer bleiben jahrelang die Zürcher, die ab 1930 im Dolder auf einer Kunsteisbahn üben und 1936 und 1949 Meister werden. Erst ab den späten 1950er Jahren wird Eishockey durch den Bau von Kunsteisbahnen ein Flachlandsport und der Vorteil Höhenlage ist dahin.
Das Bündner Hockey ist nun den gleichen Wechselfällen mit Auf- und Abstiegen ausgesetzt wie die Konkurrenten. Davos und Arosa steigen ab und wieder auf und werden in den 1980er Jahren noch einmal Meister: Arosa 1980 und 1982, Davos 1984 und 1985.
Mit der Einführung der Playoffs (1986) beginnt die Amerikanisierung. Unser Hockey wird «Big Business». Im Frühjahr 1986 zieht sich Arosa freiwillig aus der NLA in die 1. Liga zurück. Das Budget ist auf 2,10 Millionen Franken angewachsen. Spitzenhockey ist in Arosa nicht mehr finanzierbar. Heute spielt Arosa in der vierthöchsten Liga (1. Liga).
In Chur überlebt Eishockey in der höchsten Spielklasse noch bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts in der Arena von Thomas Domenig. Die Churer spielen allerdings nie eine wichtige Rolle. Über einen 8. Schlussrang kommen sie in sechs NLA-Saisons nicht hinaus. Heute sind sie Hinterbänkler in der MySports League.
Nur in Davos oben hat sich das Spitzenhockey bis zum heutigen Tag gehalten. Der Spengler Cup ist geschickt kommerzialisiert worden. Inzwischen sogar mit TV-Direktübertragungen nach Kanada. Dort laufen die Spiele wegen der Zeitverschiebung mit grossem Erfolg als «Frühstücksfernsehen». Weil die Nordamerikaner die Geschichte viel mehr respektieren als wir, sind sie begeistert von einem Turnier, das seit 1923 gespielt wird.
Noch in den 1970er Jahren bringt der Spengler Cup kaum Geld ein. Heute verdient der HCD als Veranstalter und Vermarkter zwischen zwei und drei Millionen.
Der HCD lebt auch von seiner Geschichte und von der ganz besonderen Lage. Er profitiert davon, dass Davos ein Sehnsuchtsort vieler Bündner bleibt, die in Zürich und in der weiten Welt Karriere gemacht haben.
Diese emotionale Bindung öffnet manches Portemonnaie im Unterland und beschert dem HCD mit dem hoch angesehenen Wirtschaftsanwalt Gaudenz Domenig in turbulenten Zeiten den bestmöglichen Vorsitzenden.
Die Davoser, diese letzten Mohikaner der Bündner Hockeykultur, brauchen das «Flachland-Geld» so dringend zum Überleben wie die Bergbauern die Subventionen und der Kanton Graubünden den Zustupf aus dem eidgenössischen Finanzausgleich.
Die Davoser können auf dem Transfermarkt auch deshalb nicht mehr mit den bösen Hunden bellen, weil sie heute eine «Eishockey-Neidsteuer» bezahlen müssen. Sie büssen dafür, dass sie es auf dem Höhepunkt des Ruhmes von Arno Del Curto zu toll getrieben haben.
Einerseits provozierten sie die Mächtigen im Unterland mit sportlichem Erfolg, mit den Titeln von 2002, 2005, 2007, 2009, 2011 und 2015. Aber mehr noch durch die Attraktivität als «Kraftort» unseres Hockeys. Und dabei wurde kräftig mit Geld nachgeholfen, zeitweise murrten die Sportchefs im Flachland über «Crazy Money in the Mountains»).
Höhepunkt waren die «Diebstahl-Transfers» von Peter Guggisberg und Beat Forster. 2003 holten die Davoser das Jahrzehnttalent Peter Guggisberg in Langnau aus einem laufenden Vertrag heraus. Vor zivilem Gericht (!) mussten die Emmentaler eine Transferentschädigung erstreiten.
Während der Saison 2008/09 wechselte Beat Forster mit einem laufenden Vertrag und gegen den Willen der ZSC Lions nach Davos.
Für diese Dreistigkeiten büsst der HCD noch immer. ZSC-Manager Peter Zahner scharte nun im «heiligen Zorn» die Unzufriedenen im Flachland um sich. Er hat durchgesetzt, dass die Klubs heute dem HCD die Spengler-Cup-Pause nur gegen eine Zahlung von durchschnittlich rund 800'000 Franken pro Jahr zugestehen.
Inzwischen sind die Budgets der Spitzenklubs von zwölf auf mindestens 15 und bis zu 20 Millionen gestiegen. Seit drei Jahren kann der HCD, zusätzlich geschwächt durch die «Neidsteuer», finanziell nicht mehr mithalten.
Zudem hat der HCD für die neue Spielergeneration die Faszination verloren und gilt nicht mehr als Kraftort. Der HCD ist nach und nach zu einem «gewöhnlichen» Hockeyunternehmen geworden. Eine charismatische Persönlichkeit mit der Strahlkraft von Arno Del Curto gibt es nicht mehr. Wahrscheinlich könnte selbst ein Arno Del Curto der besten Jahre den HCD nicht mehr zu einem Spitzenklub machen.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Spitzeneishockey sind in Davos oben nicht mehr viel besser als in der Leventina. Der Kanton Graubünden kann mit der Wirtschaftskraft der urbanen Zentren nicht mithalten. Die Randlage oben in den Bergen, einst ein zentraler Erfolgsfaktor, ist in Zeiten der Urbanisierung längst ein Nachteil geworden. Selbst Ambri (mit Autobahnanschluss) und Langnau (eine halbe Autostunde ausserhalb von Bern) sind besser an die bevölkerungsreichen Zentren des Landes angeschlossen.
Bis zum Beginn der Playoffs (Saison 1985/86) kostete ein meisterliches Hockeyunternehmen rund zwei Millionen. So viel Geld liess sich mit den Zuschauereinnahmen und den Zuwendungen der lokalen Fürsten, der Garagisten, Architekten, Versicherungsagenten, Immobilienhändler, Bäcker, Metzger und Hoteliers auftreiben.
Heute kostet der Spielbetrieb eines Meisterteams rund 20 Millionen. Um Spitzenhockey zu spielen, braucht es entweder die Gunst von Milliardären, rekordhohe Zuschauerzahlen (wie in Bern) oder das Netzwerk eines grossen, starken Wirtschaftsraumes. Der HCD hat nichts mehr davon in ausreichendem Umfang.
Das Bernbiet mag wirtschaftlich auch kein Silicon Valley sein. Aber jeder der drei Berner Klubs (Langnau, SCB, Biel) hat ein Einzugsgebiet (Emmental, Oberaargau, Mittelland, Seeland), das wirtschaftlich fast gleich stark ist wie die ganze Bündner Volkswirtschaft.
Eigentlich müssten unter diesen Voraussetzungen alle Hockey-Kräfte im Kanton auf den HCD und den Spengler Cup konzentriert werden.
Ja, angesichts der Ausstrahlung über die Landesgrenzen hinaus müsste der Kanton Graubünden jedes Jahr den HCD und den Spengler Cup unter dem Titel «Standort-Marketing» mit drei bis fünf Millionen aus den verschiedenen Fonds zur Förderung von Wirtschaft, Tourismus und Bündner Kultur alimentieren.
Dann wäre es möglich, den HCD dauerhaft mit den Millionen zu versorgen, die es heute für eine Spitzenposition und die Hege und Pflege des Spengler Cups braucht.
Aber das war noch nie der Fall und wird nie der Fall sein. Schon der Name erklärt uns das Problem. Graubünden (Grigioni, Grisons) ist der einzige Kanton, der im Plural daherkommt. In keinem anderen Landesteil ist die Gemeindeautonomie so stark wie im «Land der 100 Täler». Die Bündner sprechen Deutsch, Italienisch und Romanisch; das Romanische wird noch einmal in fünf Dialekte aufgeteilt. Bei aller Verschiedenheit sind sich die Gemeinden eigentlich nur in einem einig: nur ja keinem Geschäft zustimmen, das die eigene Unabhängigkeit einengen und dem Nachbar nützen könnte.
Die Geographie erschwert die Zusammenarbeit sowieso. Eine Reise von Arosa nach St.Moritz dauert länger als die Fahrt von Zürich nach Genf. In der Altjahrswoche 2015 scheitert der vorerst letzte bedeutende hockeydiplomatische Vorstoss. Der Erstligist Arosa wollte das HCD-Farmteam für die Swiss League werden. Die sportliche Basis für den HCD wäre breiter geworden. Der entsprechende Zusammenarbeitsvertrag wird letzten Moment doch nicht unterzeichnet und bleibt Makulatur – wie sämtliche angedachten Versuche einer Kooperation zwischen Arosa, Davos und Chur.
Diese «Zersplitterung» war, ist und bleibt eine Schwäche der Bündner Hockeykultur. Der HC Davos ist eigentlich kein Hockeyklub aus dem Kanton Graubünden. Sondern lediglich ein Dorfclub aus dem Prättigau. Die Davoser sind die Bergbauern des Eishockeys. Und was den alpinen Agrarunternehmern die Direktzahlungen aus Bundesbern, sind dem HCD die Einnahmen aus dem Spengler Cup. Und so wie viele Bauern sich neu erfinden, dem «Agrar-Kapitalismus» abschwören (immer mehr produzieren) und auf Bio-Betrieb umstellen, so muss sich auch der HCD neu erfinden. Die Produktion von Meistertiteln ist nicht mehr möglich. Aber als «Eishockey-Bio-Betrieb» – also als Ausbildungsklub – kann sich der HCD weiterhin auf der grossen Hockey-Bühne behaupten.
Die Popularität, Magie der gelb-blauen Farben und der ruhmreichen Geschichte sind so gross, dass der HCD nicht auf Titel angewiesen ist. Sagen wir es mit ein bisschen viel Pathos: So wie Moses das auserwählte Volk ins Land führte, wo Milch und Honig fliesst, so obliegt es nun dem grossen Vorsitzenden Gaudenz Domenig, den ruhmreichen HCD zurück zur Bescheidenheit zu führen. Dorthin, wo – frei nach den berühmten Worten von Winston Churchill – sportlich Blut, Schweiss und Tränen warten.