Eishockey ist ein Sport der Statistik. Zumal sich die Statistiken sehr gut als Ausrede einsetzen lassen. Ja, sie sind das blitzende Schwert der Ausrede in der Hand der Erfolglosen. Mit Zahlen lässt sich jeder Entscheid rechtfertigen. Man muss nur schlau genug sein, die entsprechenden Statistiken für die einzelnen Situationen herauszusuchen, die eine Ausrede stützen.
Inzwischen sind die Zahlen über Stars und Mitläufer ein Geschäftszweig geworden. Der kluge, mehrfache Meisterverteidiger Andreas Hänni hat die «Advanced Statistics» zu seinem Business gemacht. Er ist einer der meistunterschätzten Hockeyexperten im Land geworden.
Aber wie verlässlich sind diese Statistiken? Der Nutzen ist zweifelsfrei gross. Und wenn sie hundertprozentig verlässlich wären, wäre er noch grösser. Aber da gibt es zumindest für einen Bereich ein ganz grosses Fragezeichen.
Tore, Assists und Strafminuten sind unumstössliche Wahrheiten. Zumal diese Statistiken von der Liga überprüft werden – was ja mit der flächendenkenden TV-Abdeckung aller NL-Spiele problemlos machbar ist. Auch die Plus/Minus-Statistik, die uns sagt, bei wie vielen Toren und Gegentoren ein Spieler auf dem Eis war, dürften recht genau sein. Weil sich auch diese Angaben mit TV-Bildern überprüfen lassen.
Aber was ist mit den erstaunlichen Zahlen über die Eiszeiten der einzelnen Spieler? Wir können mit einem Mauseklick erfahren, wie lange ein Verteidiger oder ein Stürmer während eines Spiels eingesetzt worden ist (die sogenannte Eiszeit). Und zwar sowohl bei numerischem Gleichstand als auch im Powerplay oder in Unterzahl. Für die Beurteilung eines Spielers, aber auch eines Trainers, spielen diese Zahlen eine wichtige Rolle. Weil sich beispielsweise feststellen lässt, ob ein Trainer junge Spieler einsetzt, oder seine Stars zu stark belastet.
Diese Eiszeiten werden von freiwilligen Helfern auf Computern erfasst. Stark vereinfacht erklärt: Jedes Team hat seine Hobby-Statistiker, die genau hinschauen, wann ein Spieler aufs Eis kommt und wann er es wieder verlässt und die diese Daten im Computer eintragen.
Wir sollten diese Eiszeiten allerdings nicht als absolut betrachten. Sondern als grobe Schätzungen. Kürzlich erzählte mir einer dieser «Eiszeit-Statistiker», ein freundlicher, ehrlicher, junger Mann, wie das so zu und her geht. Sein Name ist mir entfallen und ebenso der Name des Klubs, für den er arbeitet. Nur so viel: Es handelt sich um ein sehr renommiertes, traditions- und erfolgreiches Eishockeyunternehmen.
Es muss während des Spiels bei den Zahlen-Jungs recht lustig zu und her gehen. So hat mir dieser tüchtige anonyme Zeitstatistiker erzählt, er habe im Statistikteam Kollegen, die das iPad während des Spiels nicht für die Eingabe der Eiszeiten verwenden. Sondern lieber ein Skirennen schauen. Oder Filme. Hinterher habe man dann die entsprechenden Zahlen Handgelenk mal Pi eingegeben. Das sei nicht so schwierig. Man wisse ja ungefähr, wer wie viel Eiszeit bekomme. Meine Frage, ob man die Eiszeiten am Ende gar ausgejasst habe, hat er energisch und empört verneint.
Wenn da schon bei einem renommierten, traditions- und erfolgreichen Hockeyunternehmen so gefuhrwerkt wird, können wir ohne jede Boshaftigkeit annehmen, dass auch bei anderen Klubs «Zeitschätzer» am Werk sind.
Ein Skandal? Nein, keineswegs und ganz im Gegenteil. Vielmehr ist das gut so. Denn so werden die wahren Kenner, die Tüchtigen und die Klugen belohnt. Wir kehren zurück zur wahren, echten Spielerbeurteilung. Richtig liegt, wer sich nicht auf die Statistik verlässt, sondern bei einem Spieler auf alles achtet, was er im Laufe eines Einsatzes tut oder eben nicht tut. Wer die Körpersprache interpretiert (positive oder negative Signale?) und herausfindet, welche Rolle einer in der Kabine spielt und wie gut er auf und neben dem Eis trainiert. Und so weiter und so fort. Nur so können wir den Leitwolf vom Mitläufer unterscheiden.
Wer sich nur auf die Statistik verlässt, ist verlassen: Alle Konkurrenten haben ja die gleichen Zahlen auch. Der Leitsatz eines Sportchefs müsste unter den ganz besonderen Verhältnissen unseres Hockeys sein: Nur so viel Statistik wie nötig und so wenig Statistik wie möglich. Genau sind nur die Angaben über Tore, Assists, Strafminuten und zu einem schönen Teil wohl auch die Plus/Minus-Statistik. Alles andere basiert auf groben Schätzungen oder gar auf grobem Unfug.
So wichtig Zahlen sein mögen: Spieler sind Menschen. Männer, die bezahlt werden, um zu spielen. Für die richtige Einschätzung sind, wie oben erwähnt, «weiche» Faktoren (Charakter, Verhalten in verschiedenen Situationen etc.), viel Erfahrung und ein breites Wissen viel wichtiger als Statistiken bzw. grob geschätzte Zahlen von Sportsfreunden, die lieber Skirennen als Hockeyspiele sehen.