Ein wehmütiger Blick zurück hilft uns, die Gegenwart besser zu verstehen. Im Februar 1933 entsandte die «NZZ» einen Studenten namens Max Frisch nach Prag an die Eishockey-WM. Er sollte später ein berühmter Schriftsteller werden («Biedermann und Brandstifter»).
Max Frisch schrieb über die Schweizer, die das Turnier auf dem 5. Platz beendeten: «An einem Bankett der Presseleute hörte ich wiederholt dieses Urteil über unsere Mannschaft: Sie spielten in Prag das feinste Eishockey, ihre Kombination ist einzig dastehend, und auch technisch sind die Schweizer Stürmer tadellos. Obwohl die Schweiz die kleinsten Leute mitbrachte, stellt sie ohne Zweifel das weitaus schnellste aller europäischen Teams. Wenn die Leute körperlich schwerer wären, dürften sie unschlagbar sein. Unser Sturm, anerkannt der gefährlichste in Europa, konnte sich niemals ganz entfalten, da er sich nicht auf die Verteidigung verlassen konnte. Torriani und die Cattinis sind in Prag bald populär geworden wegen ihres begabten Spiels und ihrer Jugendlichkeit. Warum unsere Schweizer nicht ins Final gelangten? Es fehlt ihnen der Kampfgeist. Ob es ihre körperliche Unterlegenheit ist oder weil ihnen das anspornende Publikum fehlte: Jedenfalls erschienen sie als sehr matte Kämpfer: Einige fassten die ganze Sache doch zu sehr als Familienreise auf.»
Die Schweizer gehörten, seit sie 1925 in Davos die EM gewonnen hatten, zur Weltklasse. Bei der WM 1935 wiederum in Davos kamen sie so nahe an den WM-Titel wie nie mehr bis 2018 in Kopenhagen. Sie verloren das entscheidende Spiel um den Titel gegen die Kanadier wahrscheinlich nur, weil ein Grippe-Virus die Mannschaft gepackt hatte.
Es war die grosse Zeit des «-ni- und -er-Sturms», von Bibi Torriani, Pic und Hans Cattini sowie Heini Lohrer, Herbert und Charly Kessler. Die Spielkultur der Schweizer mahnte in jener Zeit ein wenig an die Russen, die ab 1954 das Welteishockey dominieren sollten: Sie setzten auf spielerische Brillanz, Schnelligkeit und Beweglichkeit und nicht auf die nordamerikanische Härte. Beim Olympischen Turnier 1928 hatten sie erstmals mit Schulterschonern gespielt und sich über mangelnde Beweglichkeit beklagt.
Die Schweizer hielten sich bis 1953 in der Weltspitze. Nach der «ni-Linie» brachten sie mit den Arosern Hans-Martin Trepp und den Gebrüdern Gebi und Ueli Poltera noch einmal eine Sturmlinie aufs Eis, die zu den besten ausserhalb der NHL gehörte. Ueli Poltera gewann 1950 in London mit 17 Toren sogar die WM-Skorerwertung. Bibi Torriani hat in 49 WM-Partien 55 Tore erzielt, Hans-Martin Trepp 29 WM-Partien 32 Treffer. Wahrlich, offensive Titanen des Welthockeys.
Dann aber setzte der Niedergang ein. 1961, 1971 und 1990 waren die Schweizer bei der WM im eigenen Land nicht einmal in der A-Gruppe und 1998 nur, weil die Teilnehmerzahl auf 16 Mannschaften ausgeweitet und der Gastgeber gesetzt war. Im Laufe dieser Jahre der Stagnation, die den Schweizern zweimal (1969, 1974) die Relegation bis in die C-WM auf die Stufe von Australien bescherte (das immerhin mit 20:0 besiegt wurde), erreichten nur noch unsere Torhüter hohes internationales Niveau.
Aber 1998 war der Anfang der Rückkehr in die Weltklasse. 2013 und 2018 hat die Schweiz den WM-Final erreicht. 2018 ging der WM-Titel gegen Schweden erst im Penaltyschiessen verloren. Wir sind gut genug, um Weltmeister zu werden.
Können wir die «goldenen Jahre» zwischen 1925 und 1953 überhaupt mit der Gegenwart vergleichen? Ist es heute nicht viel schwieriger geworden? Heute müssen sich die Schweizer bei der WM gegen die NHL-Profis bewähren. Bis 1977 spielten die Nordamerikaner bei den Titelturnieren nur mit Amateuren.
Das ist zwar richtig. Aber bis 1966 bestand die NHL nur aus sechs Teams, heute sind es 31. Von den kanadischen WM-Helden schafften viele den Sprung in die NHL. Vom Aroser Sturm mit Hans-Martin Trepp und den Brüdern Gebi und Ueli Poltera sagte der damalige Präsident der Boston Bruins der «NZZ», sie könnten ohne weiteres auch in der NHL spielen.
Selbst in den sechziger Jahren beteuerte Pater David Bauer, der langjährige Manager und Coach des kanadischen Nationalteams, Michel Turler hätte es zum NHL-Superstar gebracht, wenn er in Kanada aufgewachsen wäre. Der läuferisch vielleicht eleganteste Stürmer unserer Geschichte brachte es immerhin zum Topskorer (7 Spiele/6 Tore/4 Assists) und besten Spieler der B-WM 1971 in Bern, La Chaux-de-Fonds und Lyss.
Und damit sind wir wieder beim Max Frisch angelangt. Seine Analyse in der «NZZ» sagt uns ja, dass den Schweizern in den «goldenen Jahren» ganz offensichtlich «nur» Härte und Biss fehlten, um den Titel zu gewinnen.
Inzwischen haben unsere Stars die NHL erobert. Zuerst die Torhüter und nun auch die Stürmer. Die fehlende körperliche Robustheit, die Max Frisch moniert hatte, ist kein Problem mehr. Und an Leidenschaft und Kampfgeist fehlt es auch nicht mehr. Oder populistisch gesagt: Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte hart genug, um Weltmeister zu werden.
Erstmals seit den frühen 1950er Jahren sind die Schweizer wieder dazu in der Lage, offensiv auf Augenhöhe mit den Besten der Welt zu spielen. Und sie haben, anders als in den «goldenen Jahren», eine Verteidigung, auf die sie sich verlassen können. Verteidiger Roman Josi war bei der Silber-WM 2013 sogar im All-Star-Team und wertvollster Spieler (MVP) des Turniers.
Die meisten unserer NHL-Stars hätten bei der WM mitspielen können. Es ist, wie es ist: Die Virus-Krise hat die Schweizer um die beste Möglichkeit der Geschichte gebracht, Weltmeister zu werden.